Die Liebe muss leuchten

Als junger Mann konnte er nicht richtig beten. In Assisi sass er vor dem Kreuz und betete für eine Entscheidung. Im Franziskanerkloster erkannte er, dass das Religiöse eine Art Kleid ist. Seit 25 Jahren begleitet Beno Kehl Menschen mit Suchtproblemen.

Beno Kehl, Leiter des Hauses «Zueflucht»:
«Du kannst nicht Christ sein, wenn du das Kreuz nicht im Alltag siehst, der Wandlungsprozess, die Auferstehung, geschieht immer wieder.»

«Gegrüsset seiest du, Maria …» Surrend glitten die Räder über den Asphalt. Dörfer, Seen, Städte, Wälder, Gärten, Häuser. Surrend glitt die Welt vorbei.
Die Hände umschlossen die Lenkstange. «... voll der Gnade, der Herr sei mit dir …» Am Morgen war die Sonne aus der Nacht emporgestiegen. Ruhig und entspannt ging der Atem. Rucksack, Schlafsack, eine Wasserflasche, mehr brauchte es für diese Reise nicht. Hügel zogen sich hinauf, Häuser, Menschen, Bäume, Blumen, Strassen, Autossurren an den tretenden Beinen vorbei. «… du bist gebenedeit unter den Frauen …» Die Griffe gebeugt wie der Rücken, den Schweiss auf der Stirn durch den Fahrtwind gekühlt, den Körper stark gemacht mit Triathlon. Laufen, Velo fahren und schwimmen konnte er gut, er war kein Geräteturner. Bei Tausenden von Kraulzügen hob er den Kopf aus dem Wasser, den rechten Arm vorgestreckt und sprach einatmend: «Herr, erbarme dich meiner», beim Joggen betete er, den Rosenkranz in der Hand: «Gegrüsset seiest du, Maria …» Laufen, Velo fahren, schwimmen und schreinern konnte er, lernte das dreidimensionale Denken kennen, zeichnete Pläne, schrieb Holzlisten, hobelte, sägte, feilte, schraubte, erlernte die Feinheiten der Schwalbenschwanzverbindung, baute sich eine kleine Schreinerei auf, aber er konnte nicht beten. Also übte er sich im Beten. «Gegrüsset seiest du, Maria …» Er betete, die Räder surrten über den Asphalt, in der rechten Hand hielt er den Rosenkranz, Perle um Perle glitt zwischen Daumen und Zeigefinger hindurch, er fuhr mit dem Rennvelo über den Pass nach Assisi. Dort wollte er die Antwort finden.

«Wow» machte es vor dem Haselstrauch

An einem Morgen einige Jahre vorher, halb sieben Uhr, auf dem Rorschacher Berg, sprang er über den Gartenzaun. Er war Zeitungsbub, in der dritten Klasse, zeitweise ein schlechter Schüler, oft krank, hatte viele Unfälle, war an beiden Beinen gelähmt gewesen und unterschied nicht zwischen Biene Maja, Mickey Mouse und dem heiligen Franziskus von Assisi, von dem ihm seine Mutter erzählte. Sie sprach über Franziskus’ Sonnengesang, wie er den Vögeln predigte und wie sich die Vögel auf die Arme des heiligen Franziskus setzten. Als er durch den Garten lief, beim «Bernerhüsli», blieb er vor einem Haselstrauch stehen und dachte: «Jetzt mache ich es wie Franziskus.» Er hielt den Vögeln seine erste kleine Predigt, sagte, wie schön sie es hätten, sie könnten herumfliegen und müssten nicht in die Schule. Er machte es wie Franziskus, segnete die Vögel, und als er die Arme ausstreckte, um den Segen zu erteilen, da setzte sich ein kleine Meise auf seine Hand, und es machte «Wow». Und so erfuhr er, dass er ein kleiner und wichtiger Teil im grossen Ganzen war.
Mehrere Jahre später, an einem Samstag, war er mit seiner 125er-Yamaha auf dem Weg zu einer Einladung zu einem Abendessen, er wusste, das sich in dem Haus viele religiöse Gruppen trafen. Nach dem Essen spazierte die Gruppe zur Kapelle hoch, setzte sich auf die Holzbänke, schaute auf den Leib Christi, das gebrochene Brot, das Jesus mit seinen Jüngern teilte. Alle schauten. Auch er schaute. Und plötzlich sah er, wer Jesus ist und auch, was der Mensch ist. Er war so tief erschüttert, dass er nicht über das redete, was er in der Kapelle gesehen hatte. Er brauchte Jahre, bis er es so formulieren konnte, dass ihn seine Mitmenschen verstanden. In der Kapelle hatte er ein Erlebnis ausserhalb der drei Dimensionen gehabt, kein Raum, keine Gerüche, keine Farben. Keine Worte.

Surrend glitten die Räder über den Asphalt. Dörfer, Seen, Städte, Wälder, Gärten, Häuser. Surrend glitt die Welt vorbei. «… und gebenedeit sei die Frucht deines Leibes …« Er sass gebeugt auf dem Rennvelo, sprach leise gegen den Fahrtwind: «… Jesus, heilige Maria, Mutter Gottes …» Tausend Kilometer, fünf Tage fasten, fünf Tage für Tausend Kilometer, er wollte wissen, ob das geht, tausend Kilometer ohne Essen. «… bitte für uns Sünder, jetzt …» Fasten, beten, treten, über den Pass, eine regenkalte Nacht in einer Scheune. «… und in der Stunde unseres Todes …» Er suchte nach einer Antwort. Fasten, beten, treten. Wasser trinken. Und über die Schwelle trat er in die Kapelle des heiligen Franziskus von Assisi, und sprach: «Amen.»

Er kehrte zurück an den Rorschacher Berg, mit dem Zug, er ging zur Bank, verschenkte sein Geld, besuchte einen Typen in dem Haus, in dem sich die religiösen Gruppen trafen, schenkte ihm das Fahrrad. Die Handwerkstruhe, Hobel, Hammer, Säge, Stechbeitel, Feilen und sein Geschick, zwei praktische Hände zu haben, war sein einziger Besitz, den er mit ins Kloster nahm, eine Einsiedelei, in der er wie Franziskus lebte, zusammen mit einem sehr alten Glaubensbruder. Wenn er Hunger hatte, ging er zu den Bauern betteln, so wie Franziskus, und er stand in seiner braunen Mönchskutte am Strassenrand, den rechten Daumen gegen den Himmel gereckt, darauf hoffend, dass ihn jemand mitnahm, er hatte kein Geld, so wie Franziskus.

Schlimm und blutig war es auf dem Platzspitz

«Gegrüsset seiest du, Maria …» Er war fünfundzwanzig, sass auf einer Bank in einem Park in Zürich, er war zu Besuch bei seinen Brüdern. «… voll der Gnade, der Herr sei mit dir …» Er betete den Rosenkranz, neunundfünfzig Holzperlen und ein Kreuz, wie es Jesus trug, auf seinem letzten Gang. «... du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit sei die Frucht deines Leibes ...» Eine junge Frau trat an die Bank, fragte, ob hier noch frei sei, er sagte Ja, raffte seine Mönchskutte zusammen, sah zu, wie sich die junge Frau einen Schuss setzte, und fragte, den Rosenkranz in der Hand: «Lieber Gott, was willst du mir sagen?» Neben ihm sass die junge Frau – manchmal fragt er sich heute noch, ob sie wohl noch lebt, er hatte sie danach ab und zu wiedergesehen, aber jetzt schon länger nicht mehr, alle nannten sie «Engeli». Sie sagte, die Spritze noch in der Hand: «Bring uns etwas von deiner Hoffnung.»

Und so ging er von da an auf den Platzspitz, er wusste, dass Gott durch die Not der Menschen spricht, verteilte religiöse Pamphlete, Jesus liebt alle, das war seine tiefste Überzeugung, und er dachte an die Geschichte in der Bibel, die Geschichte der verlorenen Drachme. In der Bibel wird Gott einmal mit einer Putzfrau verglichen: Eine junge Frau wollte heiraten und hatte zehn Drachmen gespart, das war der Preis für die Heirat. Eines Abends brachte die Frau die Drachmen mit dem Ärmel zum glänzen, dabei fiel eine Drachme hinunter. Neun Drachmen reichten nicht für eine Heirat. Am nächsten Morgen putzte sie das ganze Haus, rief ihrer Freundin zu: «Ich habe die Drachme gefunden!», und sie freute sich mehr über diese eine Drachme als über die neun anderen. Doch mit biblischen Zitaten und mit dem religiösen Wunsch, die Menschen, die im Müll und Dreck lebten, von der Sucht freizubeten, konnten jene Menschen, für deren Seelen er betete, nicht viel anfangen. Kein «Herr, erbarme dich meiner», kein «Gegrüsset ...» und auch kein «Vater unser» erlöste diese Menschen von der Sucht, denen er Essen brachte, ihre Lebensgeschichten anhörte, sich auf den von Müll übersäten Boden kniete, in seiner Mönchskutte. Vor ihm auf dem Boden lag ein Bewusstloser, gezeichnet von den Strapazen der Sucht, schmutzig von den Nächten in den Parks, er beugte sich nieder und reanimierte ihn.
«Eine schlimme und blutige Zeit», sagt er Jahrzehnte später, als er sich an den Platzspitz erinnert. Er sitzt im Garten hinter dem Haus.

Auf dem Platzspitz Menschen, sie standen herum, fragten nach Drogen, ausgemergelte Gesichter, vom beginnenden Entzug zitternde Beine, erwartungsvolle Gesichter, die Gestalten ignorierend, die vor einem Tischchen sassen und gebrauchte Zigarettenfilter und Fixerutensilien anboten, die «Filterlidealer», die niedrigste Kaste in der Szene, und dann die Menschen, deren Geld und Körper, Psyche, Geist und Seele irgendwo verlorenging. In der Kindheit, in der Familie, in der Schule, bei Freunden oder später, als sie ihre erste Nacht im Park verbrachten, zufrieden gestimmt vom Heroin in ihrem Körper, nur noch darauf fokussiert, diese Sucht zu befriedigen.
«Gegenüber der Sucht sind sie sehr gehorsam», sagt er. Er sitzt hinter dem Haus im Garten, ein E-Bike lehnt an der Mauer.

Alle haben einen Flick ab

«Gegrüsset seiest du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir ...» Er betete und meditierte in der Klosterkapelle, er fastete, hatte es ein bisschen mit der Askese, ernährte sich drei Monate nur von Licht, studierte Theologie und Sozialtherapie nach christlichen Grundsätzen, stellte fest, dass man nicht darum herumkommt, sich mit seinem eigenen Leben zu beschäftigen, es zu hinterfragen, wenn man eine Ausbildung zum Sozialtherapeuten macht und es das Ziel ist, Menschen zu therapieren: «Warum war ich als Kind so oft krank, warum hatte ich so viele Unfälle?»

Gott hatte neben ihm in der Wiege gelegen, als Kind schon hatte er die Berufung gespürt, Gottes Wille zu erkennen und im Leben umzusetzen. Sein Vater war Handwerker gewesen, ein ehemaliger Bauernsohn, der, so bestimmte es die Familientradition, ins Kloster geschickt werden sollte.
Als er Biografiearbeit machte, fragte er sich, welche Stelle er in der Familie einnahm, seit er im Kloster lebte und das erfüllte, was sein Vater nicht zu geben bereit war: Gehorsam, keine eigenen Gedanken, Keuschheit, kein Weitergeben von eigenem Leben, und Armut, keinen Besitz anhäufen. Er beschäftigte sich mit Biografiearbeit, ging einmal, als er dachte, er sei nicht normal, zu einem Psychiater, liess das abchecken, alles im grünen Bereich, aber die klösterliche Umgebung liess ihn manchmal unsicher werden, was der Norm entspreche.
An einem Morgen im August, im Garten hinter dem Haus, flankiert von einer Kastanie, die beim Nachbar steht, und einer Esche, kräftig, mit ausladenden Ästen und einem Schatten spendenden Blätterdach, sagt er: «Wir haben doch alle einen Flick ab.»

«… du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus ...» Er betete, meditierte, fastete, schöpfte Suppe und verteilte Brot.
Er schrieb dem Steueramt, dass er einfach vergessen habe, die Steuern zu bezahlen, für das Geld, das er mit seiner Schreinerei verdient hatte. Er schrieb, er lebe jetzt in einem Franziskanerkloster, habe kein Geld, werde sich aber eine Arbeit suchen, um die Steuern zu bezahlen. Das Steueramt fand das amüsant und erliess ihm die Steuerrechnung. So erlebte er, dass ihm auch auf materieller Seite vergeben wurde. Dass Gott ihn liebte und ihm vergab, war sein Fundament, er machte mit der Biografiearbeit weiter, erkannte, dass er das Familienopfer war, das Opfer, das gebracht werden musste, um das Familiensystem im Gleichgewicht zu halten, wie das Lebendopfer, der Hahn, den sie in Afrika schlachteten, damit ein Kranker gesundet und ein Bauprojekt gelingt.

Unter dem Kreuz ausharren

Er fastete, meditierte, betete. «… Heilige Maria, Mutter Gottes ...» Jeden Tag sieht er, was die Sucht mit den Menschen macht. Sie haben kein Geld, keine Freunde, keine Familie, keine vernünftige Sexualität, kein Essen, keine Wohnung. Doch er glaubt zutiefst daran, dass in jedem Menschen ein göttlicher Funke existiert. Auch in jenen Menschen, die mit vereiterten Wunden dasitzen und mit der Spritze nach einer Vene stochern. Er will diese Menschen nicht retten, das ist Gottes Aufgabe. Aber er kann ihnen Menschlichkeit entgegenbringen, so wie Franziskus. In der Bibel steht: «Das, was ihr meinem geringsten Bruder antut, das tut ihr mir an.» Und wie Engeli es gesagt hatte: «Bring uns etwas von deiner Hoffnung.» Die Menschen, die ihm bei der Franziskanischen Gassenarbeit begegneten und ihm ihre Geschichte erzählten, waren Leidende, so wie Jesus am Kreuz gelitten hatte, und er lernte, dass er manchmal unter dem Kreuz Jesu ausharren musste, so wie Maria, die Mutter Gottes, und Maria-Magdalena ausgeharrt hatten, und der Jünger, der ihn geliebt hatte, unter dem Kreuz, zu Füssen Jesus. Er musste ausharren mit den Menschen, die neben ihm litten, sie waren so tief in die Sucht verstrickt, sie drehten sich nur noch um ihr eigenes falsches Ego, sie opferten der Sucht alles: Körper, Psyche, Geist, das Leben, und sie waren gehorsam, gehorchten der Sucht, unterwarfen sich ihr, und so harrte er mit ihnen aus, so lange, «bis man Jesus ins Grab tragen konnte.»

Der Mensch, ein Rauschwesen

Er machte die Erfahrung, dass Hoffnung zu bringen auch bedeutet, mit einem Menschen auszuharren, weil keine Therapie mehr greift, weil der göttliche Funke unter einer Gerölllawine vergraben liegt. Er konnte mit ihnen ausharren und so die Hoffnung bringen, die aus der Liebe zu Gott entsteht, und als Sozialtherapeut verstehen, dass mit Drogen ein Gleichgewicht im Hirn entsteht. Adrenalin und Endorphin beginnen zu sprudeln, die Droge bewirkt eine Vergiftung, die Hormone werden aktiv und der Mensch fühlt sich glücklich, die Seele spürt nur noch das Schöne, je mehr Glückshormone, um so mehr ist der Mensch im Gleichgewicht. Süsses, Sport, Auto, Sex und tausend andere Drogen schütten Serotonin aus, der Mensch ist im Gleichgewicht und viele versuchen einfach, ihren Pegel im Gleichgewicht zu halten, mit furchtbaren Konsequenzen, weil die Drogen enorm heikel sind. Der Mensch ist ein Rauschwesen, das steht auch in der Bibel, als die Jünger Wein soffen und es keinen Tropfen mehr gab, machte Jesus kein Drama und besorgte den noch besseren Wein. Der Rausch ist nicht das Letzte, der Mensch braucht den Rausch, im Tanz, im Sport, eine Form der Transzendenz, aber es gibt die, die nicht mehr vom Rausch loskommen und dann hast du die Konsequenzen.
Flacht dieses Rauschgefühl ab, kommen zwei Glücksfresser, fressen das Glück, dann sind es vier Glücksfresser, acht, sechzehn, Hunderte, sperren ihre Mäuler auf und schreien nach Glück, nach Drogen, nach Rausch.

Im Fegefeuer leben ist einfacher

Er betete, meditierte, fastete, und aus dem «Suppenzmittag» wurde die Anlaufstelle «fraga», die Franziskanische Gassenarbeit, mit Büro und einem Gemeinschaftsraum. Dort konnten sich die Menschen vom Platzspitz aufwärmen, Suppe essen, Kaffee trinken.
Er sass in der Mönchskutte an einem Tisch bei der fraga, hörte die Lebensgeschichte eines Menschen und erfuhr, dass auch Veränderungen möglich sind. Da gab es Menschen, mit denen er redete, mit der unumstösslichen Gewissheit, dass Gott den Menschen in seinem Kern als gut erschaffen hat, und mit dem Wissen als Sozialtherapeut, dass Sucht einen Menschen in einen tiefen, sehr tiefen Abgrund stürzen lässt, und er redete mit ihnen und manche Frau und mancher Mann dockten dann zaghaft an, an dem, was er ihnen brachte. Hoffnung. Die Hoffnung, von der Strasse wegzukommen, sich einen anderen Weg zu überlegen. Doch er wusste auch, dass es einfacher war, in der Hölle zu brennen, als durch das Fegefeuer zu gehen. Denn das Fegefeuer ist die Lebenskrise, die kommt, wenn man jemandem die Drogen wegnimmt.
Er sagt, hinter dem Haus, im Garten: «Ich bin da vorsichtig, wenn es um das Drogenwegnehmen geht.»

Drogen für das Gleichgewicht

Drogen sind ein Gleichgewichtsmacher, sie stellen ein inneres Gleichgewicht her, Drogen sind eine Selbstmedikation, eine selbst verordnete Arznei, damit alles unten bleibt, eingepackt in den kurzen, weichen Rausch durch die Droge, vom Sehnen zum Rausch und zurück in die Realität.
Vor ihnen sass der Franziskanermönch, er sprach mit ihnen über Auswege, die hart waren und Entscheidungen, die man fällen musste, um eine Veränderung zu bewirken. Er betete mit ihnen, kümmerte sich darum, dass sie Suppe und Kaffee bekamen, und für einen Moment hatte sie die Hoffnung erfasst, die der Mönch in der braunen Kutte lebte.
Drei Hochbeete stehen am Rand des Sitzplatzes, im Garten hinter dem Haus, er wirkt nun seit 25 Jahren in der Franziskanischen Gassenarbeit, er sagt: «Ich kann den Menschen nur einen Weg aufzeigen, eine Möglichkeit, wie es auch gehen könnte, wenn man etwas verändern will. Den Weg müssen sie selber gehen.»

Er gehört zu denen, die behaupten, jeder Mensch trage die Liebe Gottes in sich, im Widerspruch zu den Protestanten, die sagen, der Mensch sei grundsätzlich schlecht. Ihm ist die differenzierte Sicht der katholischen Kirche näher, die sagt, dass der Mensch an und für sich von Gott gut erschaffen wurde, aber verletzt sei durch die Erbsünde. Er glaubt daran, dass jeder Mensch den göttlichen Funken in sich trägt, er fragt sich, wie weit er diesen Funken nach aussen tragen kann, das hat mit Bewusstseinsentwicklung, mit Versöhnung, mit Reflektieren und dem Sehen, dass er ein Teil vom Ganzen ist, zu tun.

Das grosse Geheimnis

Gott hat den Menschen erschaffen, ob Gott nun einen Lehmklumpen genommen hat und Adam daraus erschaffen hat, das weiss er nicht, im übertragenen Sinn sicher. Doch was sagt Gott dazu, wenn die Menschen seine Schöpfung zerstören, mit Sucht, den Tempel zerstören, den Gott für die Menschen erschaffen hat, den Körper, der uns durch das Leben trägt, das Gott uns geschenkt hat? Und Gott gab den Menschen nicht nur das Leben, er gab ihnen auch den freien Willen.
Wenn er sieht, wie gross das Universum ist, dann weiss er, weil der Mensch den freien Willen von Gott hat, kann er sein Leben verderben oder er kann in Freiheit versuchen, als Mitschöpfer, dieses Leben zum Aufblühen zu bringen. Das ist das grosse Geheimnis. Gott hätte ja Roboter erschaffen können, und dieser Planet ist fressen und gefressen werden, ein Kreislauf, vom Bakterium über die Pflanzen zu den Tieren, die sich gegenseitig fressen, und dem Menschen, der Tiere und Pflanzen frisst, das ist hochdramatisch, aber der Mensch hat auch die Möglichkeit, neue Technologien zu erfinden, so dass der Planet nicht in den Abgrund stürzen muss.

Der Stein fällt herunter

Vielleicht nimmt Gott Rache an den Menschen, die seine Schöpfung zerstören, so wie es zum Teil im Alten Testament steht. Er gehört zu denen, die sagen, Gott habe in die Schöpfung gewisse Gesetzesmässigkeiten hineingelegt: Feuer ist heiß und wenn du dich ins Feuer setzt, verbrennst du dich. Nicht der liebe Gott bestraft dich, indem er dich verbrennt. Deshalb hat die Schuld, das Fehlverhalten, Konsequenzen, du kannst zu Gott rufen: «He, tut mir leid, ich möchte es ändern, kann ich es in Ordnung bringen?», und dann kann mit dem kreativen Geist ganz viel in Ordnung kommen, das kaputt gemacht worden war, unter der Schuttlawine, in der Szene, in der Familie und später bei Freunden, im Beruf. Es ist das Gesetz der Schwerkraft, dass ein Stein, wenn man ihn in den Himmel wirft, wieder herunterfällt. Und wenn man ihn noch so hoch hinaufwirft, er braucht zwar länger, bis er unten ist, aber er fällt herunter. Jesus hat am Kreuz alle Steine auf sich genommen, hat keinem einen Vorwurf gemacht, hat allen vergeben, und er reicht den Menschen die Hand zur Vergebung, und ob du diese Vergebung annimmst und weitergibst, das ist dann der Haken bei dir.
Und die Konsequenz der Freiheit. Jeder Mensch, von Gott erschaffen, trägt die Verantwortung für sein Leben, auch jene Menschen, die der Sucht gehorchen, ein unglaublicher Verschleiss von Ressourcen, eine Katastrophe, ein Kriegstreiber, Seelen gehen kaputt, Seelen gehen verloren, ein Abgrund, tief, sehr tief, Sucht ist das Kreisen um das falsche Ego, Drogen sind eine Form von Nahrung, eine tragische, und er antwortet auf die Frage, ob Gott Rache üben wird: «Aber Gott wird wahrscheinlich nicht so kleinlich sein, höchstens so kleinlich wie wir selber sind.» Er sitzt im Garten, hinter dem Haus, ein Bewohner setzt sich an einen runden Tisch, trinkt einen Kaffee und raucht eine Zigarette, in der Küche klappert Geschirr, das Haus wird rund um die Uhr mit Video überwacht.

Nächstenliebe ist manchmal «u schwierig»

In der Bibel steht, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, und er erfährt, dass es «u schwierig» ist, mit diesen Menschen liebevoll umzugehen, eine Erfahrung, die er auch mit seinem kleinen Sohn Jonas macht. Liebe heisst nicht, dass Jonas alles machen kann, er ist manchmal stündlich mit dem Kerli am hebeln, «He, so nicht», und plötzlich ist Jonas wieder im Flow und kann wieder spielen. Und dann bricht er wieder aus. Liebe heisst auch sehr konsequent sein, und er hat die Erfahrung gemacht, mir kann es nicht gut gehen, wenn es einem anderen schlecht geht, er muss nicht allen helfen, aber jenen, die ihm in seinem Umfeld begegnen, bei denen muss er probieren, einen Schritt zu helfen. Und manchmal ist es so, dass man die Leute kontrolliert auf die Schnauze fallen lässt, wie bei Jonas, der beim Velofahren oft nicht auf die Strasse schaut, und so muss er ihm zutrauen, dass er über einen Randstein donnert und hinfällt, fällt, in der Hoffnung, ein kleiner, harmloser Sturz würde ihm die Augen öffnen. Und so ist es auch, wenn die Menschen Drogen nehmen, irgendwann haben sie einfach die Konsequenzen, das ist die Gesetzesmässigkeit des Feuers und der Schwerkraft, und keine Drogen nehmen ist auch gefährlich, wenn sie mal Drogen genommen haben und dann keine Drogen mehr nehmen, werden sie meistens sehr krank.

Aus Liebe hingebungsvoll, hilfsbereit und fleissig

«Bitte für uns Sünder ...» Als er sein Noviziat abschloss, sagte der Guardian: «So einen guten Novizen wie dich, so hingebungsvoll und hilfsbereit und so fleissig, so jemanden habe ich noch nie gehabt.» Er antwortete: «Ich habe das Ganze nur mitgemacht, weil mir das Jesus vor zwei Jahren gesagt hat.»
In der Kapelle des heiligen Franziskus von Assisi hatte er vor dem Kreuz gesessen. Er hatte selten innere Stimmen, selten hatte er Wahrnehmungen mit Worten und doch hatte er geglaubt zu hören, wie Jesus sprach: «Mir zuliebe machst du jetzt das ganze Ding mit Liebe mit.»
Später sagt er, im Garten hinter dem Haus: «Vieles war im Kloster wunderbar, aber dieses Kasperlitheater, das darf man fast nicht sagen, das ging zum Teil hochneurotisch ab.» Manchmal dachte er, die haben einen Flick ab. Er durchlief das äussere religiöse System bis in die Tiefe, dann sah er, es spielt fast keine Rolle, welche Religion es ist. Spiritualität braucht ein äusseres Kleid, aber das Wesen geht viel tiefer, und das war im Kloster die Schlüsselerfahrung, dass es um das geht, was tief unten ist, es geht um das Geheimnis der liebevollen Hingabe. Und diese fand er nicht nur im Christentum, er hat zu vielen Religionen ein sehr differenziertes, aber schönes Verhältnis.

«… jetzt und in der Stunde des Todes. Amen.» Leise murmelte er die Worte, ein Blumenstrauss stand vor dem Kreuz, geschützt durch die Mauern der Kapelle, Jahr um Jahr betete er, meditierte, fastete, schloss sein Theologiestudium ab, war nun ausgebildeter Sozialtherapeut, Franziskanischer Gassenarbeiter, kehrte jeden Abend ins Kloster zurück, in dieses sehr strukturierte Leben, das für ihn auch etwas Zwanghaftes hatte. Er erlebte das Religiöse als ein äusseres Tun, das für ihn oft nicht authentisch war. Es war eine gute Zeit im Kloster, ihn reut kein einziger Tag, aber religiöse Leute haben zu fünfzig Prozent, so steht es auch in der Bibel, die haben einen Flick ab, oder anders gesagt, sind sich fremd geworden.

Er sitzt im Garten, hinter dem Haus, in einem Zimmer brennt Licht, es ist halb zwölf Uhr Mittag, er muss heute noch eine Beerdigung vorbereiten, das gehört bei ihm dazu, so wie er ausgeharrt hat, als Jesus am Kreuz starb, so geht er mit, bis ans Grab. Manche Seelen lassen nicht los, kehren in die Welt der Lebenden zurück und spuken als Geister herum, erdverbundene Seelen, die an Geld, Besitz und Macht hängen, und die Seelen von Menschen mit einer Drogensucht gehen oft sehr schnell, die haben so viel gelitten.

Er verbrachte 20 Jahre im Kloster und jetzt sagt er, als er im Garten sitzt, hinter dem Haus, es sei wie bei den zehn Jungfrauen, mit den Törichten und den Klugen. Die Klugen seien jene, die sich selber weiterentwickeln, die ihr Ego und eine Hingabe entwickeln, die handeln. Und logisch, auch er habe einen Flick ab. Er hat so viele Defizite, aber in der Zeit im Kloster ist vieles heil geworden, zwanzig Jahre, er arbeitete intensiv an sich, mit Seelsorge, Therapie, er machte Biografiearbeit, hatte seine Wertlosigkeit, die auch jeder in sich trägt, angeschaut und konnte genau hinschauen, und er sagt, da habe er natürlich einen Luxus erlebt, dass er das so erfahren konnte, und er habe auch immer die richtigen Leute gehabt, die ihm dabei geholfen hatten. Da sind zum Teil tragische Geschichten, die er in sich hat, so wie alle Menschen diese tragischen Geschichten in sich haben. Er war als Kind nicht umsonst so viel krank, es war nicht alles rund in seiner Kindheit, und da hat er viel aufgearbeitet. Und er schaut auch immer wieder bei sich selber hin und muss auch immer wieder seinen Weg suchen.

Der Mensch hat ja viele Seelenanteile, mit denen er nicht richtig in Kontakt ist, die nicht verknüpft sind, die sein diffuses eigenes Bewusstseinssystem retour drängen, und solange der Mensch noch das Problem bei den anderen sieht, ist der Mensch nicht heil. Das ist so. Er hat viele Wege gemacht, konnte sich Zeit nehmen und geben. Und es ist nicht so einfach, die geistige und die irdische Welt vernünftig zusammenzubringen, sodass es geerdet ist. Jesus ist ja gekommen, um das Reich Gottes in dieser Welt zu verankern. Da gibt es halt Verleugnungen, Konflikte und Missverständnisse.
Im Garten hinter dem Haus sagt er: «Ich habe ein grosses Ego, ich kann im Mittelpunkt stehen.» Die Klostertendenz ist so: man ist anständig, brav, zurückhaltend, dienend, demütig, ein chronischer Sünder.
Er hatte keine Angst vor seinen Defiziten, denn durch die Erfahrung, dass er grundsätzlich geliebt wird, spielten die Defizite keine Rolle, das sind nur Ressourcen, die noch schlummern. Nicht angeschaute Defizite, nicht angeschaute, unbewusste Schatten, sind wie Energien, die noch nicht frei sind. Es sind Ressourcen, die der Mensch noch nicht nutzt. Er denkt an den gekreuzigten Jesus, der auferstanden ist, und das ist wirklich etwas Schönes, das, glaubt er, keine Religion so auf den Punkt bringen kann, wie der Jesus, der am Kreuz hängt und allen verzeiht. Vorausgesetzt natürlich, dass auch du allen verzeihst. Sonst bleibt dir dein Rucksack voller Probleme.

Goldmarie oder Pechmarie

Die Kunst im Leben ist nicht, dass du niemanden verletzt, sondern jenen, die dich verletzen, verzeihst. Er weiss, dass ihn jene Menschen, denen er etwas von seiner Hoffnung bringt, auch betrügen, ausnützen, sie beschimpfen ihn mit groben Worten, zweimal wurde er bei der Gassenarbeit zusammengeschlagen. Er verzeiht, hat auch schon Verwarnungen geschrieben und gesagt: «Jetzt ist genug Heu unten, so geht’s nicht», und verzeiht, weil er weiss, dass auch ihm alles vergeben wurde, und er in der Ausbildung zum Sozialtherapeuten gelernt hatte, dass Veränderung immer möglich ist und dass man ein Problem nicht alleine lösen kann, dass man immer einen Coach braucht, denn Probleme sind ein soziales Geschehen, die kannst du nicht alleine lösen. Und wenn es nur ist, mit jemandem darüber zu reden, offen und ehrlich, oder auch die nötige Hilfe in Anspruch zu nehmen, und das ist auch das, was sie immer wieder im Haus vor dem Garten sagen: Jeder hat immer wieder die Chance zu einer Veränderung, man muss Geduld haben, bis jemand an diesen Punkt kommt, bei dem zwei Zeitlinien aufeinandertreffen, ein Zeitknoten, da können Entscheidungen gefällt werden, um in diese oder eine andere Richtung zu gehen. Es gibt wesentliche Zeitlinien und dann gibt es die ganz kleinen. Das Märchen von der Frau Holle, bist du eine Goldmarie oder bist du eine Pechmarie, schüttelst du die Decken, das heisst, du lebst in einem gesunden Rhythmus, stehst auf und gehst ins Bett, oder machst du es wie die Pechmarie, dann hast du eben am Schluss deine Ernte. Eigentlich geht es um das, die kleinen Momente.

Viele kleine Entscheidungen

Er betete, hörte zu, redete, schöpfte Suppe und verteilte Brot an Menschen, die in Hauseingängen ihre Spritzen liegen liessen, die zu Hunderten nur eines suchten: Drogen. Damit hatte der Franziskanermönch keine Erfahrung. Doch er wusste, dass die gefährlichste Reise, die man in dieser Welt machen kann, nicht in die verschiedenen Kontinente und Kriegsgebiete führt, sondern zu dir selber, zum sechsten Kontinent, in dein Innenleben. Und da hatte er schon vieles gemacht. Er erinnerte sich an die Frau mit dem Namen «Engeli» und dass in der Bibel steht, wir sollen auf die Stimmen der Engel hören und den Weg gehen, wenn etwas dran ist, dann ist es dran.
Als Franziskaner war er schon ein bisschen ein Aushängeschild. Er redete und betete mit den Menschen, sie erzählten ihm ihre Schicksale, die nicht einfach waren, aber es gab letztendlich ganz viele kleine Entscheidungen, die sie selber gefällt hatten, sodass sie heute auf dem Platzspitz standen.
Er kann nur versuchen, jemanden dafür zu sensibilisieren, dass er neue Entscheidungen treffen muss, wenn er etwas verändern will. Hoffnung bringen heisst, auch wenn der Mensch in eine Sackgasse hineingeraten ist, es gibt einen Ausweg, aber der Ausweg ist hart. Es ist einfacher, manchmal in der Hölle zu sitzen, als durch das Fegefeuer auf eine bessere Ebene zu kommen. Es ist einfacher, nur zu jammern, dass du einen Handlangerlohn hast, als am Abend zu studieren und zu lernen und eine Weiterbildung zu machen. Hoffnung heisst: «He, du hast Ressourcen, der Ausweg ist kein Geschenk, den muss letztendlich jeder selber gehen.» Manchmal tun sie ihm schon leid, wenn er hört, dass sie von klein auf missbraucht wurden, auch damit müssen sie fertig werden, auch damit müssen sie den Weg der Versöhnung finden, oder sie bleiben im Elend. Mitleid haben oder Mitgefühl empfinden, das ist eine Frage des Grundgefühls, und er glaubt daran, dass in jedem Menschen ein göttlicher Funke lebt, das ist sein Grundgefühl.

Auferstehung im Alltag

Er stand auf dem Letten, sah dieses Bild, Jesus am Kreuz, und hinter den Nägeln, mit den Jesus am Kreuz festgenagelt war, sah er Fäden, wo all die Geschichten dran geknüpft sind, Prostitution, Diebstahl, Raub, Gewalt, und das hat Jesus alles auf sich genommen. Jesus ging selber in all die Geschichten hinein, damit du im Schmerz drin nicht alleingelassen wirst, er nahm alles mit in den Tod, ist auferstanden, Neues entstand, ein starkes Konzept für die Seelenhygiene. «Du kannst nicht Christ sein, wenn du das Kreuz nicht im Alltag siehst. Der Wandlungsprozess, die Auferstehung, geschieht immer wieder.» Und wann der Punkt der Verwandlung kommt, das liegt nicht in seiner Hand, er kann begleiten, motivieren, viele machen diese Schritte erst am letzten Tag ihres Lebens und andere machen diese Schritte vielleicht im nächsten Leben.

Er betete, meditierte, pries Gott mit seinem Gesang, schöpfte Suppe und verteilte Brot, sah Menschen, die sich den Arm mit einem Ledergurt abbanden, sah Menschen, wie sie sich einen Schuss verpassen liessen, zu schwach, um selbst die Spritze zu halten. Er erinnerte sich an sein Erlebnis in der Kapelle, als er schaute, die Teilung des Brots, als er sah, was Jesus ist und was der Mensch ist und dass der göttliche Funken in allen Menschen ist, das liebt Gott an seinen Wesen, auch wenn ein Haufen Kuhfladen und Sucht darüber sind, das Äussere vergeht wieder.

Er sitzt im Garten hinter dem fünfstöckigen Haus, auf dem Dach stehen Bienenkästen. Er denkt sehr, sehr lange über die Frage nach, was seine wichtigste Erkenntnis in zwanzig Jahren Kloster war. Die eine Erkenntnis war, dass jeder Mensch seinen Teil in die Gesellschaft hineintragen kann, schreiben, schreinern, was, spielt keine Rolle, du musst den Teil, den du in dieser Welt manifestierst, möglichst mit Hingabe machen, das ist so eine Erkenntnis für jeden Menschen. Jeder Mensch hinterlässt eine spezielle Farbe, deshalb braucht es auch die Bettler, damit andere Gutes tun können, und es braucht auch die Diebe, damit die Polizei einen Job hat, ein duales Spiel.
Das andere ist, dass der Mensch das Bedürfnis hat, Transzendenz, den Glauben, zum Ausdruck zu bringen, deshalb braucht es verschiedene religiöse Kleider, katholische, reformierte, freikirchliche, muslimische, das sind die Kleider, wie eine Blumenwiese, je mehr, desto schöner. Er hat gerne Sonnenblumenfelder, aber er ist froh, dass es nicht nur Sonnenblumen hat.

Das vollbrachte Opfer

Und was war für ihn persönlich die wichtigste Erkenntnis?
Das war in Afrika, in Zusammenhang mit einem Projekt. In Afrika geht man, wenn jemand in der Familie krank ist, zum Animistenpriester, der befragt mithilfe von Knöchelchen die Ahnen: Was braucht es, um den Menschen wieder gesund zu machen, was braucht es, um das wieder ins Gleichgewicht zu bringen? Meistens müssen die Familien einige Hühner schlachten, oder eine Ziege, das Blut in die Erde fliessen lassen, und durch dieses Opfer wird das Gleichgewicht des kranken Menschen wieder hergestellt.
Im Zusammenhang mit dem Familiensystemstellen nach Bert Hellinger wurde ihm bewusst, dass auch die katholische Kirche das Lebendopfer praktiziert, wenn eines der Kinder aus einer Familie der Klostergemeinschaft anvertraut wurde. Er hatte sein Lebendopfer gebracht, es war im Jahr 2008, da hatte er gemerkt, jetzt ist die Zeit erfüllt, seine Zeit als Opfer war erfüllt, er wurde frei von der Kirche, legte seine braune Mönchskutte ab, nahm seine Werkzeugkiste, Hammer, Hobel, Säge, Feile, er hatte zwei geschickte Hände, war Theologe und Sozialtherapeut. Er heiratete. Abends, wenn es der Alltag zulässt, sitzen seine Frau Seraina und er im Wohnzimmer und beten gemeinsam den Rosenkranz. «Gegrüsset seiest du, Maria ...»

Das Haus vor dem Garten, das vor zehn Jahren von der Franziskanischen Gassenarbeit eingerichtet wurde, bietet zwanzig Menschen mit und ohne Suchtprobleme ein Zimmer an, es sind jene Menschen, die in keiner anderen sozialen Institution angenommen werden, sie halten sich kaum an Regeln, werden laut und es ist «u schwierig, liebevoll mit ihnen umzugehen», sagt er. Seit zehn Jahren ist er Leiter dieses Hauses, das den Namen «Zueflucht» trägt, ist Chef, Ausbildner, Zuhörer, Handelnder, macht Mitte September ein Time-out mit diesen Menschen, sie besuchen die schöne Maria, sie steht in Fischingen und ist ein Bienenhaus.

Im Kloster haben sie recht gebechert, am Mittag Wein und am Abend einen Schnaps, seine Frau trinkt keinen Alkohol, also trinkt er selten. Gestern, bei einer Geburtstagsparty, hat er zwei Bier und ein Glas Champagner getrunken, danach konnte man ihn nicht mehr brauchen. Er mag es lieber nüchtern, er ist ganz zufrieden, so wie es ist, ist gut angeschlossen, bei den Bienen, in der Natur draussen oder an einem Vortrag, die Leute hören zu, mit seinem Sohn, seiner Frau, seinen Mitarbeitern, bei den Menschen, die im Haus «Zueflucht» wohnen.

Damit die Sünden uns nicht erschlagen

Barmherzig ist der Herr, geduldig und von grosser Güte.
Barmherzig heisst Mutterschoss, die Mutter, die ihr Kind liebt, es kann hundertmal in die Hose machen, es bekommt eine frische Windel, er sieht es bei seiner Frau, es ist so schön zu sehen, wie sie mit Hingabe bis zur Erschöpfung die Windel wechselt.
Gnade ist die Energie, um das Leben kreativ mitzuschöpfen, und Gnade heisst, dass du deine Fähigkeit entfalten musst, und Barmherzigkeit ist Geduld, wenn wir Fehler machen und unseren Stein in die Höhe werfen, dann kommt er retour, und manchmal schaut Gott auch, dass die Steine sehr langsam retour kommen, sodass dich deine eigene Sünde nicht erschlägt.
Güte geht in die totale Vergebungsbereitschaft, das kennt praktisch nur das Christentum. Alle anderen Religionen sagen, es gebe Punkte, die können nicht vergeben werden. Das gibt es in der Bibel auch, die Sünde gegen den Heiligen Geist wird nicht vergeben, und wenn du siehst, dass Gott die absolute Vergebung ist und das nicht willst, dann gibst du die Vergebung nicht weiter und dann wird dir auch nicht vergeben.

Die Liebe muss hoffnungsvoll leuchten

Er sitzt im Garten hinter dem Haus «Zueflucht», an der Fabrikstrasse 28, in Zürich, bald ist es Zeit für das Mittagessen, er bietet an, das Interview im Auto, auf der Fahrt nach Hause, weiterzuführen, danach muss er eine Beerdigung vorbereiten. Er führt die Hand zum Mund, zieht an der E-Zigarette, auch eine Sucht, es ist nur Wasserdampf, dann sagt Beno Kehl: «Franziskus hat etwas Schönes gesagt: Wenn dir jemand begegnet, dich anlügt und bescheisst, dann liegt der Fehler bei dir, weil die Liebe noch nicht so hoffnungsvoll durch dich hindurchscheint, sodass der andere die Hoffnung auf einen neuen Weg hat.» Das ist für ihn eine ganz tiefe Aussage. Er kann nicht mehr, als den Menschen, denen er begegnet, durch sein ganzes Wesen zeigen: Es gibt einen Weg.