«Um Himmels, Gottswillen, nein!»

Juan-Pablo Sanchez spazierte von Weihnachtsstand zu Weihnachtsstand, blieb vor der Auslage mit den Swarovski-Steinen stehen, bestaunte die leuchtenden Farben, lila, grün, rot, blau, orange. Auf dem roten Samt der Auslage funkelte und glitzerte es wie tausend kleine Sterne am Himmelszelt. Er nahm ein paar Ohrringe in die Hand, bewunderte die filigrane Arbeit, legte sie zurück und schlenderte zum nächsten Stand. Er staunte über die Teeblumen, diese kleinen, grünen Kugeln, die sich wie eine Seerose öffneten, wenn man das Teewasser darüber goss. Der Teehändler bot ihm einen kleinen Becher mit diesem Blumentee an. Juan-Pablo Sanchez kostete vorsichtig. Der Tee war ungesüsst, er schmeckte leicht bitter. Er war aber wahrscheinlich nicht nur schön anzusehen in einem gläsernen Teekrug, Juan-Pablo Sanchez dachte, dass der Tee sicher auch gesund sei, so wie die Menschen sich an dem Stand drängelten. Am nächsten Stand betrachtete Juan-Pablo Sanchez die zwei Dutzend Didgeridoos die mit kunstvollen Schnörkeln und Ornamenten verziert waren. Als er sich in das Anschauen der Ornamente vertiefte, fragte er sich, ob sich die Menschen in der Schweiz ausschliesslich Dinge zu Weihnachten schenkten, die A) die Trägerin schön machten, B) schön und gesund waren oder C) auf denen man etwas lernen konnte. Weihnachten, dachte Juan-Pablo Sanchez, muss in der Schweiz ein Fest sein, an dem Schönheit, Gesundheit und Lernen gefeiert wurden. Dagegen hatte er nichts einzuwenden. Juan-Pablo Sanchez spazierte nun zügiger an den Weihnachtsständen vorbei. Er hatte noch nie Weihnachtsgeschenke gekauft und es gab in seinem Leben niemand, dem er etwas Schönes, Gesundes oder Lehrreiches schenken konnte. Entgegen aller Vermutungen: Juan-Pablo Sanchez war deswegen nicht traurig. Es war eben Teil seines Lebens, nichts zu kaufen und nichts zu schenken.

In der Halle des Hauptbahnhofs in Zürich war es empfindlich kalt und ein eisiger Wind schnappte mit bissigen Zähnen nach Juan-Pablo Sanchez‘ Nase. Er trug zwar eine Mütze, aber ein Tuch, das man sich über die Nase binden konnte, wäre eindeutig praktischer gewesen. Doch er sah keine Menschen, die mit Tüchern vor der Nase herumliefen. Er trug auch Handschuhe und einen wollenen Wintermantel, den er gegen einen handgeschriebenen Psalm eingetauscht hatte. Juan-Pablo Sanchez hatte nie Geld in der Tasche, doch er war ein Meister der Kalligrafie. So trug er immer, sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagen und in einer kleinen, hölzernen Schachtel vor jeder Unbill geschützt, einige Psalmen in allerschönster Kalligrafie bei sich.

«Ein Engel», seufzte Juan-Pablo Sanchez

Als Juan-Pablo Sanchez sich in der grossen Halle umschaute und etwas verwirrt war über das viele Gepäck, das die Menschen heute bei sich trugen, erstaunlicherweise mit Rollkoffern und nicht mit Eseln, fühlte er sich einen Wimpernschlag lang sehr verlassen und einsam. Er sah auf seine Schuhspitzen, schönes Leder, glatt poliert, zwei Psalmen hatte er dem Händler auf dem Flohmarkt dafür geboten. Als er den Kopf wieder hob, sah er den bunten Engel. «Ein Engel», seufzte Juan-Pablo Sanchez. Das musste ein Zeichen sein. Eilig schritt er bis zu dem Engel, sah rechts neben ihm eine Rolltreppe, die ins erste Untergeschoss führte. Rolltreppen waren für ihn immer noch rätselhafte Maschinen. Man musste auf einer bestimmten Seite stehen, damit diejenigen, die die Rolltreppe hinauf und hinunter rannten, dies ohne dummen Zusammenstoss und ohne Zeitverlust tun konnten. Im ersten Untergeschoss angekommen, wusste Juan-Pablo Sanchez nicht, ob er nach rechts oder nach links gehen sollte. Er stellte sich neben die Rolltreppe und verschaffte sich einen ersten Überblick über seine nächste Umgebung. Auf der linken Seite befand sich eine grosse Toilettenanlage, rechts stapelten sich Schliessfächer übereinander. Und plötzlich sah er das kleine Symbol. Das Symbol für eine Kirche. Was für ein Wunder, an einem solch betriebsamen und vom Taktfahrplan bestimmten Ort eine Kirche zu finden! Juan-Pablo Sanchez trat näher an das Symbol heran, und hoppla, er stand direkt vor der Eingangstüre. Entschlossen öffnete er diese, trat in den winzig kleinen Empfang und sah dahinter zwei Türen offenstehen. Es waren zwei Büros, mit allerhand Papierstapeln und Ordnern auf Regalen. «Guten Tag», sprach ihn eine Dame an, möchten Sie sich die nächste Weihnachtsgeschichte anhören? Die Kapelle ist gleich hier, die linke Türe. Bitte seien Sie leise und reden Sie nicht, es ist ein Raum der Stille.» Die freundliche Dame öffnete die Tür und Juan-Pablo Sanchez trat in die Kapelle.

Die Kapelle war etwas grösser als der Stall von Bethlehem. Und trotzdem staunte Juan-Pablo Sanchez darüber, dass die Menschen in der Schweiz so kleine Kapellen bauten, so kleine Kapellen an einem Bahnhof, wo täglich eine halbe Million Menschen mit dem Zug an- und abreisten. Juan-Pablo Sanchez trat zu dem niedrigen Podest, auf dem die heilige Familie um die Krippe des Jesuskindleins stand, ein Engel lächelte sanftmütig, Hirten knieten nieder. Die Szene irritierte Juan-Pablo Sanchez etwas. Warum stand die Krippe nicht in einem Stall? Hatte die Heilige Familie in der Schweiz kein schützendes und wärmendes Obdach gefunden? In jener Nacht war es ja empfindlich kalt gewesen, und hätte die Heilige Familie den Stall nicht gefunden, wer weiss, wie die Geschichte sich dann entwickelt hätte. Die Türe der Kapelle öffnete sich, vier Menschen traten leise ein, setzten sich schweigend auf die Stühle und warteten. Da setzte sich auch Juan-Pablo Sanchez in die dritte Reihe, neben den Christbaum. Und das war wieder etwas, das ihn irritierte. Der Christbaum war nicht geschmückt. Keine einzige rote, silberne oder goldene Kugel, keine Weihnachtskerzen, nicht mal elektrische, kein Engel auf der Tannenspitze, kein glitzerndes Lametta. Juan-Pablo Sanchez war sehr enttäuscht. Hatten die Menschen, die in dieser Kirche arbeiteten, keine Zeit gehabt, den Weihnachtsbaum zu schmücken, oder war die Kirche so arm, dass sie sich keine roten, silbernen oder goldenen Kugeln kaufen konnte? Spontan beschloss Juan-Pablo Sanchez, der Kirche alle seine Psalmen, in allerschönster Kalligrafie, zu schenken. Er hatte ja Zeit, er konnte wieder neue schreiben. Doch dann blieb sein Blick an etwas Weissem hängen, das mit einem dünnen, roten Schnürchen an einen Tannenzweig gebunden war. Verstohlen streckte er die Hand aus, drehte den Zettel und las, was darauf geschrieben stand. «Liebe für immer.» Ach, so war das. Der Weihnachtsbaum war kein gewöhnlicher Weihnachtsbaum, der sich mit roten Kugeln und Lametta herausputzte. Der Weihnachtsbaum war ein Wunsch- und Segensbaum. Das gefiel Juan-Pablo Sanchez ausgezeichnet. In diesem Augenblick öffnete sich die Türe der Kapelle, ein grosser Mann in einem fröhlich orangen Hemd trat ein und hinter ihm stand ein kleiner Mann mit grauem Bart. Der grosse Mann mit dem fröhlich orangen Hemd grüsste die Besucher in der Kapelle, sagte, der Mann neben ihm sei Priester und werde jetzt eine Weihnachtsgeschichte vorlesen. Der Priester sprach: «Die Geschichte, die ich Ihnen vorlesen werde, kann Sie verwirren und herausfordern. Wenn ich fertig gelesen habe, können wir über die Geschichte reden. Und vielleicht wundern Sie sich auch, warum ich zu Weihnachten eine solche Geschichte ausgewählt habe.» Der Priester begann zu lesen:

Moiud war ein kleiner Beamter, ein Inspektor für Masse und Gewichte. Eines Tages begegnete ihm Kidr, der Führer der Sufis. Kidr sprach: «Du bist ein Mann mit guten Aussichten. Wir sehen uns wieder in drei Tagen am Flussufer.»

Moiud gab seinen Beruf auf, so wie Kidr es von ihm verlangt hatte. Die Leute tuschelten und flüsterten, Moiud sei verrückt geworden. Am dritten Tag traf Moiud Kidr am Fluss. Kidr sprach: «Zerreiss deine Kleider, wirf dich in den Fluss, vielleicht wird jemand dich retten.» Moiud tat, wie ihm geheissen.

Ein Fischer rettete Moiud. «Was hast du vor?», fragte der Fischer. «Ich weiss es nicht», antwortete Moiud. «Du bist verrückt», sagte der Fischer.

Moiud konnte schreiben und lesen und gab sein Wissen an den Fischer weiter. Er half ihm beim täglichen Fischfang und lebte in der Hütte des Fischers. Nach drei Monaten kam Kidr und sagte: «Verlass die Hütte des Fischers. Mach dich auf den Weg. Du wirst einem Bauern begegnen, der deine Hilfe braucht.»

Moiud arbeitete zwei Jahre für den Bauern. Da kam Kidr wieder zu ihm und sagte: «Geh in die Stadt Mossul und werde Pelzhändler.»

Drei Jahre arbeitete Moiud als Pelzhändler. Er sparte viel Geld und überlegte sich, ob er ein Haus bauen sollte. Da kam Kidr und sagte: «Gib mir dein Geld und gehe nach Samarkan zu einem Händler.» Moiud gab Kidr sein Geld und half dem Händler in seinem Laden. Moiud heilte Kranke, bereitete Kräutertinkturen und Tee zu. Seine Erkenntnisse in den Mysterien wurden immer tiefer. Gelehrte und weise Männer kamen zu ihm und wollten wissen: «Wo hast du studiert?» «Schwer zu sagen», antwortete Moiud. «Ich war ein kleiner Beamter, half dann einem Fischer und einem Bauern bei ihrer Arbeit. Ich wurde Pelzhändler und gab mein ganzes Geld weg und jetzt arbeite ich bei diesem Händler.»
«Aber das erklärt deine Begabung nicht», erwiderten die Gelehrten und weisen Männer. Und so kam es, dass die Gelehrten und weisen Männer eine Lebensgeschichte erfanden, die zu Moiuds Begabung passte.

Niemand, so endet die Geschichte, darf über Kidr reden, deshalb ist die Geschichte nicht wahr, und es ist die bedeutendste Geschichte eines sehr berühmten Sufis.

Drei Sätze für ein Schicksal

Stille senkte sich auf die Kapelle nieder, und nach kurzem Schweigen sagte der Priester: «Von Gott zu reden ist nicht mehr Mode. Aber wer ist Kidr in dieser Geschichte?» Ein junger Mann, der in der vordersten Reihe sass, antwortete: «Kidr ist die innere Stimme. Die Stimme Gottes. Moiud ist der Stimme Gottes gefolgt.» Ja, dachte Juan-Pablo Sanchez, manchmal lässt sich ein unabwendbares Schicksal in drei Sätzen zusammenfassen. Eine Frau in der mittleren Reihe fragte den Priester: «Haben Sie diese Geschichte ausgewählt, weil sie von der Verwandlung handelt, die man erfährt, wenn man der Stimme Gottes folgt? Weihnachten ist ja auch eine Verwandlung. Dadurch, dass Gott Mensch wurde und Jesus Christus geboren wurde, wurde Weihnachten zur grössten Verwandlung der Menschheit.» Hmm, sinnierte Juan-Pablo Sanchez, war die Geburt des Jesuskindes tatsächlich die grösste Verwandlung in der Geschichte der Menschheit? Und wenn dem so wäre, warum sind die Kirchen in diesem Land fast jeden Sonntag leer? Und wenn die Geburt Jesu Christi so bedeutend wäre, könnte er dann heute Abend einfach an eine Tür klopfen und sagen: «Hallo, ich bin der Erlöser der Menschheit, darf ich mit Ihnen Weihnachten feiern?» Tja, wenn das so einfach wäre, dann könnte er auch Weihnachtsgeschenke kaufen und unter einen Tannenbaum legen. Der junge Mann in der vordersten Reihe unterbrach seine Überlegungen und sagte: Moiud brauchte auch Mut, um der Stimme Gottes zu folgen, denn die Leute sagten, Moiud sei verrückt geworden.» Was Mut haben heisst, wusste Juan-Pablo Sanchez.

«Maria war auch eine mutige Frau», sagte der Priester, «sie folgte dem Engel Gabriel und sie wusste nicht, was sie erwartete.» Jene Nacht in Betlehem hatte das Leben seiner Mutter Maria auf tragische und schmerzliche Weise verändert. Josef, seinem Vater, wäre es lieber gewesen, wenn sein Sohn bis ins hohe Alter als Zimmermann gearbeitet hätte. Der Priester fuhr fort: «Wenn ich nicht auf Gott höre, dann … «Dann liegt in diesem Satz eine Drohung», fiel die Frau in der mittleren Reihe ein. «Wenn ich Gottes Stimme nicht folge, dann wird es mir schlecht ergehen.» Welchen Weg hätte sein Leben genommen, wenn er die Stimme Gottes ignoriert hätte? Hätte der Teufel seine Seele geholt? Würde er heute im Fegefeuer brennen? Mit diesem Gedanken blieb Juan-Pablo Sanchez allein.

Stille senkte sich über die Kapelle. Und in die Stille hinein sprach der Priester: «Jeder Tag ist Weihnachten, jeder Tag ist Christwerdung, jeder Tag ist Menschwerdung.» Hatte das, was der Priester von der Christwerdung und der Menschwerdung sagte, auch für ihn Gültigkeit? «Es muss nicht der 25. Dezember sein, an dem Jesus Christus geboren wird. Wenn Jesus tausendmal in Bethlehem und nicht in dir geboren wird, dann ist es tausendmal vergebens.» Mit diesen Worten, die sich über die Krippenfiguren und den Weihnachtsbaum legten, verliessen die Menschen die Kapelle. Konnte es sein, fragte sich Juan-Pablo Sanchez, dass er bereits tausendmal vergebens geboren worden war? Und vergebens gestorben war?

Juan-Pablo Sanchez findet den Draht zu Jesus nicht

Draussen, vor der Kapelle, sprach er den Priester an. «Ehrwürdiger Priester, darf ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen?» Der Priester nickte. Juan-Pablo Sanchez‘ Wangen röteten sich leicht, als er die Frage stellte, die ihn schon seit vielen Jahren beschäftigte. «Ich finde den Draht zu Jesus nicht, woran liegt das?»
«Das ist vielleicht ein gutes Zeichen», antwortete der Priester. «Alle wissen, wo Gott hockt. Wenn Sie keinen Draht zu Gott oder Jesus haben, dann können Sie immer noch auf der Suche sein, dann haben Sie Gott noch nicht verloren.» Das war eben Juan-Pablo Sanchez‘ Problem: Alle redeten davon, dass er geboren wurde, dass er Gottes Stimme folgte, dass er als Erlöser für die Menschen starb und aus seinem Grab auferstanden war. Aber was kam eigentlich danach? War es die Menschwerdung? Und wenn ja, warum benutzte er dann immer falsche Namen und warum gab er sich so viel Mühe, Deutsch mit einem sympathischen spanischen Akzent zu sprechen? Der Fragen waren viele. Der Priester schaute ihn an und sprach: «Augustinus sagte einmal: Alles, was wir über Gott glauben, ist falsch.» Etwas Neues, worüber sich Juan-Pablo Sanchez den Kopf zerbrechen konnte. «Ehrwürdiger Priester, beten Sie jeden Tag?»
«Wenn sie mich so persönlich fragen … Ich praktiziere eine andere Form des Betens. Jeden Morgen und jeden Abend sitze ich 25 Minuten still, versuche leer zu werden, um mich für das Geheimnis Gottes zu öffnen. Still und leer werden, für das, was Gott wirklich ist.» Aha, dachte Juan-Pablo Sanchez.
«Aber», sagte der Priester, «jeder macht seine persönliche Erfahrung mit Gott.» Ja, das könnte er bestätigen. Aber über seine persönliche Erfahrung mit Gott wollte Juan-Pablo Sanchez jetzt lieber nicht reden. «Und wenn man nicht beten kann, was dann?», fragte er den Priester.
«In der alten Sprache gesprochen: Jeder Mensch ist ein Kind Gottes, und deshalb hat Gott einen Draht zu Ihnen.»
«Danke, ehrwürdiger Priester, für Ihre Antworten.»
Mit einer leichten Verbeugung verabschiedete sich der Priester.

Juan-Pablo Sanchez setzte sich auf die nächste Holzbank, legte die Arme auf den Tisch, stützte den Kopf in die rechte Hand und dachte darüber nach, was er soeben alles gehört hatte. Es war ein bisschen viel auf einmal, sein Kopf war ziemlich schwer. Und Hunger hatte er auch. Da stand plötzlich eine freundliche Frau neben ihm und sagte: «Da vorne gibt es warme Suppe und Brot. Sie brauchen nicht zu bezahlen. Es ist ein Geschenk der Bahnhofkirche.»

Juan-Pablo Sanchez lief an den Holztischen entlang und als er in einen kleinen Raum trat, roch er die würzige Suppe. Ihm schien, dass heute alle Räume sehr klein waren. Vier lange Holztische standen an der einen Seite des Raums. Einige Menschen sassen dort, assen stumm ihre Suppe, einer steckte zwei Mandarinen in seinen abgenutzten Rucksack, ein anderer brockte sein Brot in den Teller. Die Menschen, die hier sassen, dachte Juan-Pablo Sanchez, sahen müde und heimatlos aus. Nicht einmal seine Geburt, das Weihnachtsfest, vermochte die Furchen in ihren Gesichtern etwas zu glätten.

«Was hätten Sie gerne?», fragte ihn eine freundliche Frau. Alle Menschen sind freundlich hier, dachte Juan-Pablo Sanchez. «Ich hätte gerne einen Teller Suppe und ein Stück Brot, bitte», antwortete er. Die Frau reichte ihm einen kleinen Suppenteller, sagte: «Hier ist das Brot und da sind die Löffel.»

«Geht ihr heute in die Kirche?» – «Um Himmels, Gotts willen, nein!»

Mit dem Teller in der einen und dem Brot in der anderen Hand setzte er sich an einen Tisch, an dem bereits zwei junge Männer sassen, beide hatten einen Bart und freundliche Augen. Sie tranken Kaffee und assen Weihnachtsguetzli. «Pardon», sagte Juan-Pablo Sanchez, «darf ich euch etwas fragen?» –
«Ja?»
«Ich bin etwas neugierig», entschuldigte sich Juan-Pablo Sanchez.
«Warum sitzt ihr hier?»
«Weil wir auf den Zug warten», antwortete der jüngere Mann.
«Wir mussten noch zum Schliessfach, und da haben wir den Zug nach Thun verpasst. Wir sitzen ganz zufällig hier», sagte der Ältere.
«Und wie gefällt es euch?»
«Es ist schön, cool und witzig», sagte der Jüngere.
«Feiert ihr heute Abend noch Weihnachten?»
«Wir feiern mit unserer Mutter und ihrer Katze.»
«Was ist speziell an eurer Weihnachtsfeier?»
«Also, heute Abend gibt es nichts Spezielles, ausser dass wir Raclette essen», sagte der Jüngere.
«Eigentlich feiern wir erst morgen Abend, dann sind wir sechs Leute. Mein Bruder spielt Klavier, wir singen Weihnachtslieder. Aber ich singe nicht», erklärte der Ältere.
«Warum singst du nicht?»
«Ich schäme mich, weil ich nicht gut singen kann.»
«Geht ihr heute Abend in die Kirche?»
«Um Himmels, Gotts willen, nein!» rief der Jüngere entsetzt.
«Was bedeutet euch Weihnachten?»
«Mir bedeutet es nicht mehr so viel. Aber die Weihnachtsgeschichte finde ich schön», sagte der Ältere.
«Ich finde Weihnachten schön, weil dann die ganze Familie zusammenkommt», ergänzte der Jüngere.
«Aus christlicher Sicht hat Weihnachten für mich keine Bedeutung», sagte der Ältere.
«Ich bin ein naturverbundener Mensch. Die Naturreligionen sind mir näher als das Christentum. Ich glaube nicht an Gott, ich glaube an das Gute im Menschen», erklärte der Jüngere.
«Ist Gott in eurem Leben ein Thema?»
«Zurzeit lese ich ein Buch über den Buddhismus, da geht es ja auch um Gott. Mich interessieren Religionen, aber ich bin nicht auf den christlichen Gott fixiert», antwortete der Ältere.
«Geht’s noch lange?», fragte der Jüngere. «Wir müssen auf den Zug.»
«Danke, es hat mich sehr gefreut, mit euch zu reden», sagte Juan-Pablo Sanchez und wünschte den beiden Brüdern ein schönes Weihnachtsfest. Sie schulterten ihre Rucksäcke und machten sich auf den Heimweg.

«Die Menschen haben ein Recht auf Freude», sagte der reformierte Pfarrer.

Juan-Pablo Sanchez holte sich einen zweiten Teller Suppe und ein Stück Brot, sagte Danke und setzte sich wieder an den Tisch. Da kam der grosse Mann im fröhlich-orangen Hemd daherspaziert. Sein Lächeln war glücklich und seine Augen strahlten.
«Pardon», sagte Juan-Pablo Sanchez, «darf ich Sie etwas fragen?» «Selbstverständlich», erwiderte der Mann mit tiefer und wohlklingender Stimme.
«Was hat Sie hierhergeführt?»
«Gottes Stimme und Gottes Wunsch, die Bahnhofkirche zu leiten.»
«Und wie leiten Sie die Bahnhofkirche?»
«Ich bin reformierter Pfarrer.»
«Herr Pfarrer, darf ich Sie noch etwas fragen?»
«Ja?»
«Herr Pfarrer, welche Bedeutung hat Weihnachten für Sie in der heutigen Zeit?»
«Warum stellen Sie ausgerechnet mir diese Frage?»
«Weil mich Ihre Antwort interessiert.»
Der Pfarrer setzte sich auf die Holzbank und blickte Juan-Pablo Sanchez, der einen Löffel Suppe ass, etwas nachdenklich an.
«Es sollte immer Weihnachten und Ostern sein. Heute Abend sind alle Kirchen im Land voll. Weihnachten ist wie ein Stossgebet. Die Menschen brauchen Weihnachten, auch wenn sie sagen, dass sie mit der Kirche nichts am Hut haben und nicht an den lieben Gott glauben. Weihnachten ist ein Fest der Freude und die Menschen haben ein Recht auf Freude. Wir brauchen Weihnachten, nicht im theologischen Sinne, sondern im weltlichen Sinne. An Weihnachten wird Gott klein, Gott wird Mensch und das ist einmalig, so einmalig, wie der Phoenix, der aus der Asche aufsteigt. Weihnachten ist die Hoffnung auf einen Neuanfang. Mit diesem Akt hat Gott auch das Schreckliche im Alten Testament ausgelöscht. Man kann die Bibel auf zwei Arten lesen: wörtlich oder ernst. Wenn man sie ernst nimmt, muss man sie kritisch lesen. Entweder ist Weihnachten ein Tag der Freude oder man lässt es bleiben.»

Juan-Pablo Sanchez musste erst einmal schlucken und Atem holen. Da sass ein Mensch vor ihm, dem Weihnachten sehr viel bedeutete. Sein Kontakt zu seinen Mitmenschen war etwas schwierig, da er ja nicht sagen konnte, wer er war. Also versuchte er, mit Fragen herauszufinden, was die Menschen heute so von ihm dachten.
«Wieso sind Sie Pfarrer geworden?»
«In der vierten Klasse mussten wir einen Aufsatz über unseren Traumberuf schreiben. Mein Traumberuf war Pfarrer. Aber ich bin immer froh, wenn ich sagen kann, ich bin freiwillig in der Kirche. Wenn ich sagen kann: Lieber Gott, ich spüre, dass du mich hier haben willst, aber ich könnte auch etwas anderes machen. Ich bin ständig im Clinch mit der Kirche, diesem am schlechtesten geführten Laden im ganzen Land. Die Kirche ist machtorientiert, so wie alle Religionen.»

Das sass! Juan-Pablo Sanchez schaute den Pfarrer entsetzt an. Der Pfarrer war freiwillig in der Kirche, und trotzdem passte ihm der Laden hinten und vorne nicht? Wie konnte so etwas nur möglich sein, dachte Juan-Pablo Sanchez. Tiefste Ratlosigkeit erfasste ihn. Aber weiterfragen konnte er trotzdem.

«Herr Pfarrer, wie kann man heute über Gott reden?»
«Wenn man über den alltäglichen Wahnsinn redet, dann ist man schnell bei Gott. Es gibt viele Menschen, die sagen ‹Ich glaube nicht an Gott›, aber sie kommen trotzdem in die Bahnhofkirche und finden es super, was wir hier machen.»

Was war denn mit den Menschen passiert, dass sie mit Gott nichts mehr zu tun haben wollten? Hatte Gott ihnen etwas zu Leide getan? Alles wusste auch er, Juan-Pablo Sanchez, nicht. Bei all seiner Ratlosigkeit musste er noch einige Fragen stellen.

«Herr Pfarrer, was ist der Unterschied zwischen einem Menschen, der an Gott, glaubt, und einem, der all das ablehnt?»
«Wer glaubt, kann mit offenen Fragen leben. Ich muss nicht auf alle Fragen eine Antwort bekommen.»

«Dieses Mehr, das ist Gott»

«Wie hilft Gott beim Überleben des alltäglichen Wahnsinns?»
«Immer, wenn wir staunen, hat dies mit Gott zu tun. Wenn Sie über ihr Leben nachdenken, dann kommen Sie vielleicht zu dem Schluss, dass es da immer ein Mehr gab. Sie sind im Leben vielleicht einige Male ins Stolpern geraten, aber Sie sind nicht gefallen, weil ein Mensch sie aufgefangen hat. Sie sind vielleicht jemandem 47-mal auf die Füsse getreten, aber dieser Mensch hat sich nicht von Ihnen abgewendet. Dieses Mehr, das ist Gott. Immer wenn Sie staunen, hat es mit Gott zu tun. Aber für das, was Gott ist, gibt es keine Worte.»
Aha, das Staunen. Das hatte Juan-Pablo Sanchez so noch nie gehört. Das war ein interessanter Gedanke.
«Mal angenommen, es gibt einen Gott, wie kann ich ihn mit in mein Leben nehmen?»
«Indem Sie an sich selbst glauben. Aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen, über diese Frage müssen Sie selber nachdenken.»
Hmm, sinnierte Juan-Pablo Sanchez, wenn das An-sich-selbst-Glauben die Voraussetzung für ein Leben mit Gott war, wo konnte man denn dieses An-sich-selbst-Glauben lernen? Heute war doch eher ein schwieriger Tag, so viele Fragen und so viele verwirrende Antworten. Nichts, aber auch gar nichts, war schlicht, einfach oder logisch.
«Wer besucht an Weihnachten die Bahnhofkirche?»
«Die Menschen, die heute zu uns kommen, die haben nicht viel mit Gott zu tun. Diese Menschen wollen etwas zu essen, sie wollen Nähe und Wärme.» Der Pfarrer nahm einen Zimtstern von einem Teller und biss einen Zacken ab. «Wissen Sie, junger Mann, man muss es nicht Gott nennen, es geht um Wohlbefinden, es tut mir gut. Man muss Gott nicht dahinter sehen. Auch wenn wir nicht an Gott glauben, so könnten wir doch gemeinsam am Strick der Menschlichkeit ziehen.» Der Pfarrer ass den Zimtstern, erhob sich von der Bank, streckte seine Hand zum Abschiedsgruss aus und fragte: «Wie war nochmal Ihr Name?» Hastig stand Juan-Pablo Sanchez auf, reichte die Hand zum Abschiedsgruss und nannte mit leiser Stimme und einer heftigen Röte auf den Wangen seinen Namen.
«Ach, Herr Pfarrer, nur noch schnell: Könnten Sie mir ein Buch zum Thema Glauben empfehlen?»
«Oh ja», erwiderte der Pfarrer und sein Gesicht leuchtete vor Freude wie eine kleine Sonne. «Von Hans Früh gibt es ein sehr schönes Büchlein: ‹Ich will vom lieben Gott erzählen, wie von einem Menschen, den ich liebe.›» Und so verabschiedeten sich Juan-Pablo Sanchez und der Pfarrer.

«Gehst du in die Kirche?» – «Nur wenn sie leer ist.»

Eine junge Frau setzte sich ans andere Ende des Tisches und beugte sich tief über ein Buch. Juan-Pablo Sanchez stand auf, holte sich einen Kaffee und sagte: «Pardon, ist hier noch ein Platz frei?»
«Bitte sehr», sagte die junge Frau und las weiter in ihrem Buch.
«Excusé-moi, darf ich dich etwas fragen?»
«Bitte sehr, was willst du wissen?», fragte die junge Frau und beugte sich schon wieder über ihr Buch.
«Warum sitzt du heute hier?»
«Weil ich auf den Zug nach Österreich warte.»
«Und was hast du in der Schweiz gemacht?»
«Ich habe am Christkindlmarkt in Thun gearbeitet. In der Schweiz verdiene ich in zwei Wochen so viel wie in Österreich in zwei Monaten.»
Die Frau wollte sich schon wieder in ihr Buch vertiefen, da fragte Juan-Pablo Sanchez: «Glaubst du an Gott?»
Die Frau legte das Buch auf den Tisch, schaute ihn an und sagte: «Ja.»
«Was ist Gott für dich?»
«Gott ist eine höhere Macht. Wir können mit ihr in Kontakt treten oder wir können es bleiben lassen. Wir können selber entscheiden, ob wir uns für diese höhere Macht öffnen wollen.» Aha, das war also mit den Menschen passiert, sie nannten Gott nicht mehr Gott, sondern eine höhere Macht. Ja, doch, dachte Juan-Pablo Sanchez, das tönt gut. Das kann ich akzeptieren.
«Was bedeutet dir Weihnachten?»
«In den letzten vier Jahren war ich immer unterwegs, und der 24. Dezember hatte nichts mit Weihnachten zu tun.» Die junge Frau überlegte einen Moment. «Jesus ist ein gutes Vorbild. Wenn alle so leben würden, wie er, dann hätten wir Frieden auf der Welt. Als gläubige Menschen könnten wir uns auf konstruktive Art mit Problemen auseinandersetzen.»

Dass er von vielen Menschen für seinen Mut und seine Entschlossenheit bewundert wurde, hatte Juan-Pablo Sanchez schon oft gehört. Doch heute freute es ihn besonders, weil ein junger Mensch in ihm ein Vorbild sah.
«Wie hilft dir der Glaube im Alltag?»
«Ich kann mir selber treu sein, damit ich den anderen treu sein kann. Es heisst ja auch: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn es mir gut geht, dann kann ich mich darum kümmern, dass es auch den anderen gut geht.»
«Wie definierst du deinen Glauben?»
«Vertrauen darauf, dass das Leben gut ist. Man kann nur Erfahrungen, aber keine Fehler machen.»
Aha, so sahen die jungen Menschen den Glauben an Gott oder eine höhere Macht also. Ein Weg, der gut ist, und auf dem man zwar ins Stolpern geraten, aber nicht ins Bodenlose stürzen konnte.
«Ein Leben ohne Konflikte?»
«Nein, das nicht. Aber man kann aus Konflikten lernen. Das ist das Spiegelgesetz. ‹Warum ist mir das passiert?› Wir brauchen Menschen, die uns einen Spiegel vorhalten, damit wir wachsen können. Schmerz kann ein Geschenk sein. Am Schmerz kann man wachsen. Das ist positive Psychologie. Eckhard von Hirschhausen sagt: «‹Es ist einfach, glücklich zu sein, aber es ist schwierig, einfach zu sein.›»
Oh, wie wahr gesprochen, seufzte Juan-Pablo Sanchez in Gedanken. Das Spiegelgesetz? Ja, das war ihm bestens vertraut. Viele Menschen hatten ihm den Spiegel hingehalten, aber nie selber in den Spiegel geblickt und so ihr wahres Gesicht nie gesehen. Aber das mit dem Schmerz, das würde er nicht auf Anhieb so unterschreiben. Nein. Nein. Als er auf dem Berg Golgatha ans Kreuz genagelt wurde, als ihm die Dornenkrone aufgesetzt wurde, da hatte er Schmerzen, Schmerzen und nichts anderes gelitten. Jetzt, da er dieser jungen Frau gegenübersass, fragte er sich, ob er tatsächlich an diesem Schmerz gewachsen war. Er dachte oft über diese Frage nach, aber er hatte in all den Jahren noch keine Antwort darauf gefunden. Eines wollte er aber nun doch noch wissen.
«Betest du?»
«Nicht regelmässig, aber ich bin oft dankbar. Das ist auch eine Form von Gebet.»
«Gehst du in die Kirche?»
«Nur, wenn sie leer ist.» So also war das bei den Menschen, sie besuchten die Kirche dann, wenn kein Gottesdienst stattfand. Das fand Juan-Pablo Sanchez trotz seiner Aufgeschlossenheit allem Neuen gegenüber nun doch sehr paradox. Wollten denn die Menschen Gottes Wort nicht hören? Seltsam, seltsam, sinnierte er. Gewisse Gedanken der Menschen waren ihm ein Rätsel. Und damit musste er leben.
«Hast du Freunde, die auch an eine höhere Macht glauben?»
«Meine Freunde glauben auch an diese spirituellen Spielregeln. Mit unserem Denken können wir vieles beeinflussen. – Aber jetzt muss ich gehen, mein Zug fährt bald», sagte die junge Frau, packte ihren grossen und schweren Rucksack, verabschiedete sich mit drei Küsschen auf die Wangen von Juan-Pablo Sanchez und sagte, als sie davonmarschierte: «Wir bleiben in Kontakt.»
«Ja, das werden wir», sprach Juan-Pablo Sanchez leise vor sich hin.

Nochmals trat er in die Kapelle. Er hörte eine Geschichte von einem Mönch und einem Rabbi. Als der Mönch den Rabbi um Rat fragte, weil die Klostergemeinschaft immer kleiner wurde, antwortete ihm der Rabbi: «Der Messias ist unter euch.»