Was ich auf dem Rütli über Selbstliebe erfuhr

Stützwände, Motorsäge und Salamibrötchen gehören zum Equipment

Das Rütli, die Wiese, auf der die Schweiz ihren mythischen Anfang nahm, musste die Wiege der Selbstliebe sein. Denn ist nicht die Liebe zur Heimat die Wurzel dieser speziellen Beziehung?

Kürzlich las ich in einer Zeitung einen Artikel über Selbstliebe und so kam mein Hirn auf Trab und meine Gedanken galoppierten zügellos durch die Steppe, mit mir als arg durchgeschüttelter Reiterin, die sich fragte – weil das eben gerade bei der Selbstliebe entscheidend ist: Liebe ich mich bedingungslos so, wie ich bin? Oder …? Schwierig, schwierig. Doch ich wusste: Ich musste aufs Rütli, denn dort würde ich Antworten finden.

Zwei Tage nach meiner Erkenntnis, dass Liebe zur Heimat und die Liebe zu mir ein Zwillingspaar sind, stieg ich um 10:36 Uhr vom Schiff, dass mich von Flüelen zu dieser sagenumwobenen Wiese, dem Rütli, gebracht hatte. Die Schifflände war aus gut eidgenössischem dunklem Holz, massive Säulen, so massiv, wie ich mir die Selbstliebe, deren Wurzeln ich nun entdecken würde, vorstellte. Der Weg führte gleich steil bergauf, so wie es auch in der Liebe manchmal ist. Beim Schwurplatz, dort, wo die drei tapferen Eidgenossen ihren Bund geschlossen haben, blieb ich kurz stehen und kam zum Schluss: Für einen Liebesschwur war es noch zu früh.

Die Selbstliebe braucht einen Bagger

Auf der Rütliwiese setzte ich mich unter die Föhren. Ich sah drei Bauarbeiter, die aus Schalungsbrettern eine Stützwand errichteten, damit der Hang nicht ins Rutschen kam. Die Männer hantierten mit Bagger, Motorsäge und Vorschlaghammer. So ist das also mit der Selbstliebe, sie braucht Massnahmen, damit nicht alles den Berg runterrasselt.

Ich setzte mich auf die mittlere von drei Steinbänken. Auf der Linken assen Mutter, Tochter, Grossvater und Oma ihre selbstgemachten Salamibrötchen, knabberten Gurken und Karotten und tranken Mineralwasser. Rechts neben mir nahm eine Familie Platz. Der junge Vater schnitt Käse und Brot in Stücke, riss die Verpackung mit den Speckstreifen auf, die kleine Tochter quengelte, die Mutter ass Oliven. So ist das also mit der Selbstliebe, sie will etwas zu essen und zu trinken. Und manchmal ist sie unleidig.

Ich setzte mich auf die dritte Steinbank, wollte ein bisschen für mich sein, streckte die Beine lang. Vor mir wiegten sich Baumwipfel im Wind, Buchen, Eschen und etwas, das wie ein Essigbaum aussah, dahinter reckte sich ein Berg in den Himmel und unten glitzerte das Wasser des Vierwaldstättersees türkis, wie das Mittelmeer. Zwei Kite-Surfer, der eine hellblau, der andere lindengrün, glitten durch das Bild und ein Windsurfer mit rotem Segel stürzte ins Wasser. Ein Rabe flog durch die Szene und eine Möwe spielte mit dem Wind. So ist das mit der Selbstliebe, sie will spielen. Und manchmal geht sie baden.

Die Selbstliebe braucht Seile und Knoten

Später sass ich am Schiffsteg und schaute einem Segler zu, der sein Boot daneben vertäute. Er machte auf mich einen unruhigen und unsicheren Eindruck. Mit tastenden Schritten ging er auf dem Deck von Seil zu Seil, löste, spannte, zurrte fest, sicherte mit einem Knoten. Nächstes Seil: lösen, spannen, zurren, knoten. Nächstes Seil: dito. Und das geschlagene sechsundzwanzig Minuten lang. So ist das also mit der Selbstliebe: unruhig, unsicher, Seile, die ich lösen, spannen, zurren und sichern muss, damit die Liebe dem Wellengang des Lebens standhält.

Als ich um 12:36 Uhr das Schiff nach Brunnen nahm, war mir bewusst, dass es nicht damit getan war, mich hier und jetzt im Schiffrestaurant zweiter Klasse innig und liebevoll zu umarmen. Denn, das hatte mich nun der Besuch auf dem Rütli gelernt: Selbstliebe kann Heimat sein, aber, aber, wenn ich mir Zeit nehme und dabei verweile, dann brauche ich einen Bagger, Sandwiches, Wasser und eine unendliche Geduld, alle Seile, die mich mit der Heimat, dem Ursprung der Selbstliebe, verbinden, immer wieder zu prüfen und straffer zu spannen. Und den Knoten nicht vergessen.

 


Auf dem Rütli, der Wiege der Selbstliebe, fand ich Antworten auf die Frage, was es denn braucht, um mich selbst zu lieben. (Foto: Morena Pelicano)