Wenn der Himmel die Erde berührt

Mit fremden Menschen Weihnachten feiern? Die Heilsarmee Bern macht das seit Jahren. Und sie macht es sehr schön.

Weihnachten war für mich nie ein besonderer Tag. An der Weihnachtsfeier der Heilsarmee Bern änderte sich das. Einen Abend lang spürte ich die Hoffnung, dass die Welt und ich nicht verloren sind.

Grau und düster beginnt der Weihnachtstag, dicht und grau der Nebel. Am Nachmittag spaziere ich durch den Wald. Die Sonne lässt ihr Licht durch die Bäume auf den Boden klecksen, wunderbares, gelbes, leuchtendes Sonnenlicht. Das Licht ist wie ein Versprechen aus tausenden funkelnden Kristallen. Der Morgen war so düster und grau, so düster und grau. Und als ich durch dieses Licht spaziere, denke ich, so ist es, wenn man an Gott und Jesus Christus glaubt. Alles ist Licht. Nach einem düsteren Nebelmorgen mit trüben Gedanken schenkt uns Gott das Licht, das Licht, das uns sagt, Gott hat die Menschen nicht vergessen. Vielleicht feiern wir deshalb Weihnachten, damit wir uns daran erinnern, dass Jesus geboren wurde und dass das Licht allgegenwärtig ist.

Das ganze Jahr über verschwende ich keinen Gedanken an die Geburt Jesu und an die Verheissung, dass er der Gesalbte, der Herr und der Retter ist. Im Lied «Oh du fröhliche» singen wir: «Welt ist verloren, Christ ist geboren.» Die Welt ist verloren; das ist ein schwerer Brocken, denn mit der verlorenen Welt sind auch all jene verloren, die nicht an Gott und Jesus glauben. Aber an diesem Weihnachtsfest der Heilsarmee Bern spüre ich zum ersten Mal in meinem Leben so etwas wie Hoffnung. Die Welt ist nicht verloren. Dieser Gedanke macht mich froh.

Wie einst die Hirten zum Jesuskindlein pilgerten

Ein Mann schliesst seine Wohnungstüre zu, steckt den Schlüssel in die Hosentasche. Dünnes, weisses Haar bedeckt sein Haupt, der Bart ist lang und grau, der Bauch ist gross, und die Jacke begleitet ihn schon seit vielen Wintern. Er marschiert alleine durch die Stadt. Die glitzernden Sterne über den Strassen beachtet er nicht. In seinem Herzen wohnt eine stille Freude, denn heute ist Weihnachten.

Eine sehr alte Dame zieht ihre Winterstiefel an, elegante Schuhe mit sehr hohen Absätzen. Auch wenn das Leben ein Wellental, die Welt eine hässliche und die Menschheit schlecht ist, auf Stil und Eleganz verzichtet die alte Dame nie. Aufrecht im Gang, doch demütig vor Gott, schreitet sie ins Wohnzimmer und bläst sanft über die vier Adventskerzen. Die alte Dame schliesst ihre Wohnungstür ab, steckt den Schlüssel in ihre schwarze Handtasche und macht sich auf den Weg. Seit vielen Jahren schon macht sie sich am Weihnachtsabend auf diesen Weg.

An einem Bahnhof steigen fünf bosnische Frauen mit ihren sechs Kindern in den Zug. Die Frauen tragen Jeans, praktische Pullover und pflegeleichte Winterjacken. Eine der Frauen trägt ein langes Gewand und ein Kopftuch. Das kleinste Kind, noch ein Baby, ist in eine Decke gewickelt, liegt im Buggy, und weiss nicht, wohin die Reise heute geht. Im Zug plaudern die Frauen, sie kennen sich schon länger, leben seit zweieinhalb Jahren in der Schweiz. Gemeinsam besuchen sie den Zoo, den Spielplatz oder machen ein Picknick. Die drei Buben sitzen artig da, das fällt ihnen nicht so leicht, aber sie müssen jetzt eben. Die zwei Schwestern Lea und Rembea, 13 und 16 Jahre, sitzen neben ihrer Mutter und freuen sich auf das Weihnachtsfest. So etwas haben sie noch nie erlebt.

Und wie einst die Hirten zur Futterkrippe pilgerten, um das Jesuskindlein zu ehren und zu loben, so strömen die Menschen herbei, um Weihnachten zu feiern, mit Menschen, die sie kennen und ihre Freunde sind, oder mit Menschen, die ihnen fremd sind, aber durch das Weihnachtsfest dennoch nah. Die Menschen kommen alleine oder zu zweit, einer trägt einen grossen Rucksack auf den Schultern und er sieht so aus, als ob er froh ist, dass ihn ein warmes Nachtessen erwartet. Eine Frau mit schönen, roten Haaren, lang und frisch gewaschen, wartet neben der Treppe mit ihrem Freund, zwei sehr dicke Frauen eilen quer über die Kreuzung, einfach so quer rüber bei Rotlicht, die eine ohne Jacke, nur in Leggins und kurzem Shirt, die andere in Samt und Pailletten. Sie eilen zu den beiden, die neben der Treppe stehen, grüssen sich, wie sich vertraute Menschen grüssen, und dann holen sie Zigaretten heraus und rauchen in die warme Winternacht hinein. Ein Mann mit langen, ungekämmten Haaren, in einem zotteligen Wollpullover, mit einem grossen, sehr grossen Kreuz um den Hals, in einem alten Armeemantel und klobigen Stiefeln, kommt die Strasse entlang und gesellt sich zu den Wartenden. Eine Dame mit silbrigen Haaren, in frische Wellen gelegt und mit Haarspray fixiert, stützt sich auf ihren Stock und stellt sich ebenfalls zu der Gruppe. Sie kommen, in schöne Kleider gewandet, mit einem zufriedenen Lächeln um den Mund, sie freuen sich seit Wochen auf diesen Abend. Sie kommen, in alte Kleider gewandet, ohne ein Lächeln, und sie haben sich seit Wochen gefragt, was sie an diesem Abend machen sollen, an diesem heiligen Abend. In letzter Minute entschieden sie sich, und sie sind erleichtert, als sie sehen, dass sie nicht die Einzigen sind, in ihren alten Kleidern, mit ihren grauen Haaren, den tiefen Furchen im Gesicht und mit schlechten Zähnen im Mund. Sie sind erleichtert, zusammen mit den anderen hier zu stehen, nicht alleine zu sein in einer Wohnung, in der es kein Christkind und überhaupt nicht zu viel Freude gibt.

Sie sind das erste Mal hier oder sie kommen seit Jahren als Gast oder als Helfer, weil es mit der Heilsarmee die schönste Möglichkeit ist, Weihnachten zu feiern.

Dieses fehlende Glück ist wie Schnee im Winter

Der Mann mit dem dünnen, weissen Haar und dem langen grauen Bart und der Jacke, die ihn seit vielen Wintern begleitet, sitzt zu meiner rechten Seite an einem langen Tisch. Er schaut ununterbrochen auf seine Hände, die auf dem Tisch liegen. Er interessiert sich nicht für die anderen Menschen. Er schaut den Weihnachtsbaum keinen Augenblick an. Er schweigt den ganzen Abend und schaut auf seine Hände. Der alte Mann isst kein Abendessen. Er singt keine Weihnachtslieder. Er trinkt Traubensaft aus einer Plastiktasse.

Doch als Herr Walzer den Gottesdienst beginnt, als die Kinder die Geschenkschachtel öffnen und das rote Plüschherz herausholen, als Herr Walzer sagt: «Gott macht uns ein Beziehungsangebot, Gott schenkt uns Freundschaft, Liebe und Hoffnung», da schaut der Mann aufmerksam zu Herrn Walzer. Was denkt der Mann, als Herr Walzer das rote Plüschherz in der Hand hält und es hochstreckt? Das Gesicht des alten Mannes bleibt verschlossen. Ich würde ihn gerne fragen, warum er hier ist und was ihm Weihnachten bedeutet. Aber ich getraue mich nicht, seine Stille zu stören.

In seiner Predigt fragte Herr Walzer: «Wer kann heute Abend sagen, dass bei ihm alles rund läuft, dass er glücklich ist?» Nur ich bin glücklich. Alle anderen Menschen sind es nicht. Was für ein trauriger Abend.

Dieses fehlende Glück ist wie Schnee im Winter, etwas, das man hinnimmt, über das man hinwegstolpert wie über eine Schneewehe. Warum nur sind ausgerechnet heute Abend die Menschen nicht glücklich? Hoffnung, Liebe, Licht, reicht das nicht, um einen Abend lang glücklich zu sein?

«Jesus hilft den Menschen», sagt die zehnjährige Lea

Für den zwölfjährigen Muameir ist es das erste Weihnachtsfest. Sie seien Muslime, aber sie würden auch Weihnachten feiern, sagt er. Er freut sich heute Abend über das Essen, den üppig geschmückten Tannenbaum, er freut sich, dass alle seine Freunde hier sind, dass seine Mutter und ihre Freundinnen dabei sind, dass eben alle, die er gerne hat, heute zusammen Weihnachten feiern. Geschenke auspacken findet er auch sehr schön, das hat er heute zu Hause gemacht.

Azamat ist zehn Jahre alt. Er weiss noch nicht so recht, was ihm an der Weihnachtsfeier gefällt. Der Baum gefällt ihm, die Kerzen, das Essen, nur die Lieder, die klingen fremd in seinen Ohren.

«Ich bin der Älteste, ich bin schon elf Jahre alt», sagt Deni. «Wir haben immer Weihnachten gefeiert. Heute sind wir zum ersten Mal hier. Ich finde es schön.» Die zehnjährige Lea, sie gehört der orthodoxen Kirche an, will auch sagen, was ihr Weihnachten bedeutet. «Jesus ist auf die Welt gekommen, um den Leuten zu helfen.» Sie sagt das mit grosser Selbstverständlichkeit. Wie kann denn Jesus den Menschen helfen? «Wenn die Menschen zu Jesus beten, dann kann er ihnen helfen.» Und was würde sich Lea wünschen, wenn sie einen Weihnachtswunsch frei hätte? «Dass Jesus wieder auf die Welt kommt.» Pembea ist 16 Jahre alt. «Weihnachten ist ein Tag, am dem man glücklich sein muss, weil Jesus geboren wurde.» Zu Weihnachten wünscht sich Pambea, dass es keine Krankheiten mehr gibt und dass alle Menschen glücklich sind. «Ich auch», fügt sie nach kurzem Zögern hinzu.

Ein bisschen Paradies auf Erden brauchen wir

All diese vielen Menschen, die im Heilsarmeesaal gemeinsam an den Tischen sitzen. So viele verschiedene Menschen, so viele Hoffnungen und Enttäuschungen, Liebe und Angst und Freude und das immer wiederkehrende Bangen, das eben auch zum Leben gehört.

Zu meiner linken Seite sitzt die alte Dame, die auch mit 85 Jahren noch Schuhe mit hohen Absätzen trägt. Sie sagt: «Das Leben auf Erden ist ein Kampf. Danach kommt das Himmelreich.» Vom Kampf um das Leben weiss ich bereits einige Dinge, so wie wahrscheinlich alle Menschen, die sich an diesem Weihnachtsabend hier versammelt haben. «Nein», sage ich, «das Leben ist nicht nur Kampf. Wenn das Leben auf Erden nur Kampf und Mühsal ist, dann zermürbt das den Menschen. Der Mensch braucht Schönheit, Freude und Glück.» Die Dame erwidert sehr resolut: «Nein. Wir leben nicht mehr im Paradies. Adam und Eva haben das Paradies verspielt. Deshalb hat uns Gott Jesus geschenkt, lebendige Hoffnung und Rettung. Die Bibel ist ein Wegweiser, ein Ratgeber. Sie können es befolgen oder nicht. Jeder Mensch kann das selber entscheiden.» Es gefällt mir nicht, dass das Paradies verspielt wurde, weil Adam und Eva auf ewig schuldig gesprochen werden. Das stört mein Gerechtigkeitsempfinden. Ich will es einfach nicht wahrhaben, dass wir Menschen für immer aus dem Paradies vertrieben wurden. «Ein wenig Paradies auf Erden brauchen wir Menschen, sonst können wir das Leben nicht aushalten», sage ich zu der Dame. «Es sollte zumindest für das Nötigste reichen», erwidert sie, «sonst können wir nicht zufrieden sein.»

Die Dame zitiert ganze Absätze aus der Bibel, redet eifrig und sagt: «Schreiben Sie das auf. Aber ich will nicht in die Zeitung kommen.» Ich schreibe: «An Weihnachten hat der Himmel die Erde berührt. Gott ist Mensch geworden. Jesus wurde geboren. Gott hat uns dieses Geschenk gemacht.» Dann erklingen die ersten Takte auf dem Klavier, «Oh du fröhliche», die Menschen lauschen, und ein vielstimmiger Chor beginnt zu singen: «Oh du fröhliche, oh du selige, Gnaden bringende Weihnachtszeit. Welt ist verloren, Christ ist geboren, Christ ist erschienen, uns zu versühnen.» So ist Weihnachten: fröhlich, selig, die altvertrauten Klänge des Klaviers hören und für einige Takte die Gnade erleben, wenn der Himmel die Erde berührt. Der Weihnachtsbaum streckt sich hoch bis unter die Saaldecke. Dutzende von bunten Weihnachtskugeln glitzern und funkeln. Goldlametta rankt sich über die Tannenäste. Elektrische Kerzen glimmen und leuchten. Das ist für mich ein Stück aus dem verlorenen Paradies: dieses Glitzern und Funkeln und dieses goldene Licht der Kerzen. Einen Abend lang die Hoffnung spüren, dass die Welt und auch ich nicht verloren sind.

Vielleicht ist es das, was mich an dieser Weihnachtsfeier der Heilsarmee so sehr beeindruckt. Diese Schlichtheit. Der Glanz der Kerzen und das Glitzern der Christbaumkugeln und diese grosse Tanne, die wie eine Schutzheilige im Raum steht. Die altvertrauten Weihnachtslieder, die auf dem Klavier erklingen, die roten Kerzen auf den Tischen, eine kleine Weihnachtsgeschichte und eine Predigt, die mich nicht ermahnt, sondern von Hoffnung, Freundschaft und Liebe spricht.

Ich freue mich und esse einen Zimtstern

Der Augenblick, in dem das Abendessen aufgetragen wird, ist auch sehr feierlich. Wir sind Gäste, wir sitzen an langen Tischen im Schein von unzähligen roten Kerzen, die Gespräche sind leise. Ein Mann spielt auf dem Klavier.

Zum Abendessen gibt es eine pürierte Gemüsesuppe und ein knuspriges Vollkornbrötchen. Danach servieren die Helfer und Helferinnen Hackbraten, Nudeln und Gemüse. Zum Dessert essen wir Merenguetorte. Die Herzlichkeit, für andere Menschen eine Weihnachtsfeier zu organisieren, damit sie an diesem Abend an der Gemeinschaft mit Gott und Jesus Christus teilhaben können, das ist eine schöne Geste. An die anderen denken, die am ganzen kapitalistischen Überfluss nicht teilhaben, und auch jene ansprechen und einladen, die Jesus Christus als Geschenk Gottes angenommen haben und die ihren materiellen Überfluss spenden und sich nicht scheuen, mit jenen den Tisch und Gottes Gemeinschaft zu teilen, die heute am Tisch sitzen, weil sie an diesem Abend nicht alleine sein wollen. Nach dem Essen servieren die freiwilligen Helfer Weihnachtsgebäck.

Ich denke an die Hirten, die eilten nach Nazareth und verkündeten die frohe Botschaft, dass der Retter geboren und Gott seinen Sohn geschickt hatte. «Freuet euch, freuet euch oh Christenheit.» Ich freue mich und esse einen Zimtstern.

Monate später, im Frühling, als es wochenlang regnet und eisig kalt ist, ich die Sonne vermisse und der Himmel eine graue Einöde ist, da denke ich an das Weihnachtsfest der Heilsarmee, und für ein paar Stunden wärme ich mich an der Erinnerung an das Licht und an der Hoffnung, dass der Himmel auch im Frühling die Erde berühren könnte und dass es dann leichter werden würde, mit diesem Grau, mit dieser Kälte und dieser Trostlosigkeit. Und als dann endlich ein einzelner Frühlingstag kommt, die Sonne ihr Licht schon am Morgen über die Wälder und Wiesen schickt, da ist es wie Weihnachten. Für einige Stunden erlebe ich die Freude, im Licht zu leben.