«Ohne die AA würde ich heute nicht mehr leben»

Mit 17 Jahren begann er zu trinken, er lebte als Süffel und Vagant auf der Strasse. Heute ist Walter Meier* seit dreissig Jahren trocken. Er geht jede Woche zu den Meetings der Anonymen Alkoholiker und bestärkt sich so darin, nicht mehr trinken zu wollen.

Seine Karriere als Alkoholiker begann früh. Mit 17 Jahren, während seiner Ausbildung zum Briefträger, fiel Walter Meier bereits durch Alkoholkonsum auf. Wenn er am Förderband bei der Paketverteilung arbeitete, wurde es ihm schwindlig und er musste die Arbeit unterbrechen. Zur Lehrabschlussprüfung trat er wegen seinem Alkoholkonsum nicht an, stattdessen trampte er per Autostopp nach Wien und fand Arbeit bei einer Geisterbahn. «Ich habe jeden Tag gesoffen», erzählt der heute 64-Jährige. Mit Bier und Kaffeefertig stillte er seinen Durst nach Alkohol. Im Winter gab es auf dem Wiener Prater keine Arbeit, da lebte Walter Meier wie ein Clochard. Er übernachtete in Abbruchhäusern, auf Baustellen und in Autos. Tagsüber betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit. Wegen Landstreicherei und Vagabondage wurde er für zwei Wochen ins Gefängnis gesteckt. In Wien lernte er seine erste Frau kennen, eine Prostituierte. «Das war gut, so kam ich zu Geld, ohne selber arbeiten zu müssen», erzählt er. Mit seiner Frau kehrte er in die Schweiz zurück, doch an der Grenze wurde er verhaftet, weil er nicht zum Militärdienst eingerückt war. Er war so stockbesoffen, dass er gleich ins Krankenzimmer musste. Weil er weit über 20 Jahre alt war und ein offensichtliches Alkoholproblem hatte, wurde er als dienstuntauglich erklärt. Er machte Zivilschutz, da war der Alkohol kein Problem. Nach vier Monaten trennten sich seine Frau und er, jeder ging seinen eigenen Weg.

Schlägerei im Suff

«Ich habe getrunken, nicht gearbeitet und einfach so in den Tag hinein gelebt», erzählt er. 1973, er war 21 Jahre alt, kam es im Bahnhof Bern zu einer Schlägerei. Ein Mann ging mit dem Messer auf ihn los. Walter Meier schlug auf ihn ein und traf ihn am Kopf, der Angreifer starb an den tödlichen Folgen. Er kam in Untersuchungshaft, die Anklage lautete: schwere Körperverletzung mit tödlichem Ausgang. Mithilfe eines guten Anwalts erreichte er einen bedingten Freispruch nach Artikel 44 des damaligen Strafgesetzbuches, 1 – 3 Jahre Arbeitserziehungs- und Trinkerheilanstalt, wenn er weiter trinkt und alkoholisiert auffällt. «Da habe ich mir nichts mehr zuschulden kommen lassen, aber ich habe weiter getrunken. Ich habe einen Monat gearbeitet und dann habe ich mein Köfferchen gepackt und bin mit Autostopp nach Deutschland abgehauen. Dort habe ich als Vagant und Süffel gelebt», berichtet er. Die Polizei griff ihn auf und verwies ihn für fünf Jahre des Landes, wegen seinem liederlichen Lebenswandel war er ein unerwünschter Ausländer. In der Schweiz wurde er unter Schutzaufsicht gestellt, mit der Weisung, keinen Alkohol mehr zu konsumieren und zu arbeiten. Im Jahr 1976, er war 24 Jahre alt, lernte er seine zweite Frau kennen, 1977 kam seine Tochter auf die Welt. «Da dachte ich, jetzt packe ich es, aber ich konnte das Trinken nicht lassen», berichtet er. Und fährt fort: «Im Jahr 1979 erreichte ich dann den Tiefpunkt. Als ich nach Hause kam, war die Wohnung leergeräumt, Frau und Tochter waren verschwunden. Da habe ich das erste Mal gedacht, dass es am Saufen liegen könnte. Es war auch finanziell mein Tiefpunkt, ich hatte 160 000 Franken Schulden.»

Erster Versuch bei den AA

Um auf andere Gedanken zu kommen, ging er in die Stadt. Dort traf er einen Kollegen, mit dem er oft zusammen getrunken hatte. Und der Kollege war gerade auf dem Weg zu einem Meeting der Anonymen Alkoholiker (AA). Er sagte zu Walter Meier: «Komm mit, das ist eine gute Sache.» Und so ging der 27-jährige Alkoholiker zu seinem ersten AA-Meeting. «Ich habe es dort gut gefunden. Ich kam zum ersten Mal an einen Ort, wo mir wegen dem Trinken niemand Vorwürfe machte. Niemand hat gesagt, du darfst nicht mehr trinken. Stattdessen sagten sie: Versuch heute nicht zu trinken und komm nächste Woche wieder ans Meeting.» Die Stimmung und die Menschen machten ihm Eindruck, und so ging er eine Woche später wieder ans Meeting. Walter Meier hörte mit dem Trinken auf und als er ein paar Monate trocken war, ging er zu seiner Frau und seiner Tochter zurück. Kurz darauf, im Jahr 1980, kam sein Sohn auf die Welt. Obwohl Walter Meier keinen Schluck Alkohol mehr trank, wurden die Eheprobleme immer grösser. Damals verkaufte er auf der Strasse Lexikotheken. An einem Samstag war er zusammen mit einem Arbeitskollegen auf einem Markt. Durch den Bücherverkauf lernten sie zwei Frauen kennen. Da sagte die eine: «Aber Prost machen können wir doch.» So stiessen sie mit Weisswein an. Den zweiten halben Liter bezahlte Walter Meier. «Morgens um vier Uhr war ich stockbesoffen», erinnert er sich. Und die nächsten sechs Jahre soff er weiter. Er ging weiterhin in die AA-Meetings, doch er schaffte es nicht, mit dem Trinken aufzuhören. Im Jahr 1986 arbeitete er als billiger Jakob an der Mustermesse in Basel. Während der Arbeit trank er täglich eine Flasche Whisky. Er füllte den Alkohol in eine Thermoskanne ab, es sah aus, als ob er Tee trinken würde. Abends trank er Bier. In zehn Tagen verdiente er 8000 Franken. «Ich habe das ganze Geld versoffen und im Bordell durchgebracht. Das war der zweite Tiefpunkt in meinem Leben», erinnert sich Walter Meier. Als billiger Jakob lockte er die Menschen herbei, indem er dumme Sprüche machte. Mit dem Alkohol gingen ihm die Sprüche flott von den Lippen. Doch nachdem er das ganze Geld versoffen hatte, begriff er, dass er mit dem Alkohol aufhören musste, sonst würde er sich und sein Leben vollkommen ruinieren.

Endlich, der Entzug in der Klinik

Walter Meier ging freiwillig in die psychiatrische Klinik Waldau in Bern und machte einen Entzug. Das Programm hiess damals «Wiedereingliederung in die Gesellschaft». Das Ziel: abstinent leben, ein Leben ohne Alkohol. Seit dem 19. März 1986 hat Walter Meier keinen Alkohol mehr getrunken. Seit 30 Jahren ist er trocken, und seit 30 Jahren geht er jede Woche in die Meetings der AA. Der Entzug war hart, er bekam epileptische Anfälle. «Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt verrückt werde. Ich habe richtig gespürt, wie es in meinem Hirn gedreht hat», erinnert er sich. Einen Monat nach seinem Entzug lernte er seine dritte Frau kennen, sie sind seit dreissig Jahren verheiratet. Auf die Frage, was es brauche, damit man ohne Alkohol leben könne, antwortet Walter Meier: «Am Anfang braucht es auch Glück. Ich hatte Glück mit meiner Frau, sie trinkt überhaupt keinen Alkohol.» Seine Frau motivierte ihn auch, den Job als billiger Jakob an den Nagel zu hängen und sich eine vernünftige Arbeit zu suchen. Mit 34 Jahren bewarb er sich beim Coop als Magaziner. Von da an begann sich sein Leben radikal zu ändern. Aus dem chronischen Alkoholiker wurde ein Karrieremensch. Sein Arbeitgeber entdeckte, dass in ihm Potenzial steckt. Walter Meier durchlief alle Verkaufsabteilungen, er wurde Aspirant, dann Stellvertreter, später Filialleiter. Er machte zahlreiche Kurse und wurde auch zum Lehrlingsausbilder ausgebildet. Im Jahr 1988, Walter Meier war 36 Jahre alt und seit zwei Jahren trocken, übernahm er eine Filiale mit 30 Angestellten und Lehrlingen. «Aber der Verkaufsleiter war ein ‹Stürmihund›, der ging mir so auf die Nerven, da habe ich zu ihm gesagt, er sei ein Arschloch. Da habe ich die Kündigung bekommen», erzählt er. Bei der Landi fand er einen neuen Job als Filialleiter. Mit drei Angestellten betreute Walter Meier einen 100-Quadratmeter-Laden und machte sieben Millionen Franken Umsatz pro Jahr. Er arbeitete 70 – 80 Stunden pro Woche. Im Jahr 2002 bewarb er sich bei der Securitas und machte die Ausbildung zum Fachmann für Bewachung und Sicherheit mit eidgenössischem Fachausweis. 13 Jahre arbeitete er für die Securitas. Eines Nachts, während dem Dienst, musste er mal, und ohne gross zu überlegen, pinkelte er neben einer Apotheke in eine Ecke. Das wurde von einer Überwachungskamera aufgezeichnet. Sein Chef sah die Bilder und kündete ihm den Job. Seit anderthalb Jahren ist Walter Meier nun arbeitslos. Soeben hat er einen sechsmonatigen Einsatz als Flüchtlingsbetreuer beendet. In den anderthalb Jahren hat er 110 Bewerbungen geschrieben. Bis jetzt bekam er nur Absagen. In anderthalb Jahren ist Walter Meier 65 Jahre alt, dann wird er pensioniert.

Es gibt keinen Grund zu trinken

Eines hat Walter Meier in den dreissig Jahren in den Meetings bei den AA gelernt: Es gibt keinen Grund, Alkohol zu trinken. «Egal, was passiert, ob ich die Stelle verliere, die Frau stirbt, es können die schlimmsten Sachen passieren, aber ich habe gelernt, es gibt keinen Grund zum Trinken», betont er. «Ich will nicht wieder in jenes Fahrwasser kommen, in dem ich früher gelebt habe. Seit ich nüchtern bin, geht es mir gut.»

Seit dreissig Jahren steht die Nüchternheit an erster Stelle in seinem Leben. Als er mit dem Trinken aufhörte, realisierte er, dass er nicht mehr mit den alten Freunden verkehren konnte, weil alle Alkohol konsumierten. Er suchte sich einen neuen Freundeskreis.

Als er mit dem Trinken aufhörte, stand er oft vor dem grossen Problem, Nein zu sagen, nein, ich trinke keinen Alkohol. Und nein, ich trinke den ersten Schluck nicht. «Bei den AA geben wir zu, dass wir Alkohol gegenüber machtlos sind. Wir kapitulieren vor dem Alkohol. Ich habe gelernt, immer und in jeder Situation Nein zu sagen. Nein, ich trinke den ersten Schluck nicht.» Einmal, auf einem Mitarbeiterausflug ins Elsass, besuchte er zusammen mit seinen Arbeitskollegen einen Weinkeller. Alle probierten den Wein, Walter Meier verlangte nach einem Mineralwasser. «Der Winzer fragte mich, ob ich spinne. Das war hart. Heute würde ich nicht mehr an so einem Mitarbeiterausflug teilnehmen», sagt er. Kürzlich wollte ihn ein Kollege einladen, er sagte, jetzt sei er doch seit 30 Jahren trocken, jetzt könne er mit ihm doch ein Bierchen trinken. «Nein, das kann ich eben nicht. Es gibt keinen ersten Schluck und es gibt kein Bierchen.» Walter Meier ist ein begeisterter Fussballfan. Aber er würde sich nie in einer Fan-Meile einen Match anschauen, weil da alle am Trinken sind. Solchen Situationen geht er bewusst aus dem Weg. «Ein gesellschaftlicher Druck zum Trinken ist immer da, aber man lernt, dem standzuhalten.»

AA-Meetings sind ein Training

Durch die Meetings der AA kam er zu der Einsicht, dass er sich und sein Leben um 180 Grad ändern musste, wenn er für immer trocken bleiben will. «Als ich trank, war ich immer ein ‹Siebensiech›. Ich bluffte immer damit, was ich alles konnte und wieviel Geld ich verdiente. In den Meetings lernte ich, der zu sein, der ich bin», erklärt Walter Meier. «Man muss mal Inventur machen und sein Leben jemandem erzählen, dann sieht man, was man heute immer noch falsch macht. Und dann muss man versuchen, das zu ändern, was man ändern kann», erzählt er. Durch diese Inventur kam er zu der Einsicht, dass er zu viel redet und nicht zuhört, was die Leute sagen. «Ich bin immer auf Zack. Ich musste lernen, zuerst dreimal zu schlucken, bevor ich etwas sage. Solche Verhaltensänderungen sind schwierig, aber über solche Themen reden wir an den Meetings», erklärt er. Bei den AA gibt es den Satz: Sprechen kann helfen. Jeder kann über seine Fehler reden und was er dagegen macht. An einem Meeting geht ein Körbchen mit verschiedenen Symbolen rundherum, da kann jeder das herausnehmen, was er gut findet.

Auf die Frage, wie man zu dem Punkt komme, an dem man begreift, dass man keinen Alkohol mehr trinken darf, antwortet Walter Meier: «Ein Spitzensportler geht trainieren. Ich gehe jede Woche ins Meeting, das ist mein Training, damit ich nicht trinken muss. Jede Woche rede ich darüber, dass ich nicht mehr trinken will.» Bei den AA gibt es den Satz: Du schaffst es, aber du schaffst es nicht alleine. Heute ist Walter Meier davon überzeugt, dass er dank der AA mit dem Trinken aufhören konnte. Die wöchentlichen Gespräche über den Alkoholkonsum und was einen zum Trinken bringen kann, helfen ihm, die Finger von der Flasche zu lassen. «Es gibt immer wieder Situationen, die einen dazu bringen, dass man trinken will. Wenn man die Arbeit verliert, denkt man schnell, es hat alles keinen Sinn und man beginnt wieder mit dem Trinken. Aber ich habe gelernt, dass es keinen Grund gibt, wieder mit dem Trinken anzufangen», sagt er. Damals, als er mit dem Trinken aufhörte, hatte er immer wieder das Reissen nach dem Alkohol. Er erinnert sich an eine typische Situation. Er war mit seiner Frau in Italien in den Ferien. Seine Frau machte sich parat für den Ausgang und Walter Meier sass im Restaurant und wartete. Da hätte er nur allzu gerne ein Glas Rotwein getrunken, um sich die Zeit zu verkürzen. «Aber ich habe mir gesagt, nur nicht trinken.» Heute spürt er dieses Verlangen nach Alkohol nur noch selten. Und wenn es kommt, dann weiss er, dass er Nein sagen kann. Dass er beruflichen Erfolg hatte, auch wenn er heute arbeitslos ist, bestärkt ihn darin, nicht zur Flasche zu greifen. Seit er nicht mehr trinkt, hat sich sein Leben zum Positiven hin gewendet. Er führt eine gute Ehe, hat ein herzliches Verhältnis zu seinen Kindern und seinen Grosskindern. Auf die Frage, warum er mit dem Trinken begonnen habe, antwortet er: «Weil ich Alkoholiker bin. Man kann allem die Schuld geben. In der siebten Klasse kam ich als Verdingbub zu einem Bauern, das war nicht lustig. Aber das war nicht der Auslöser für den Alkoholmissbrauch», betont Walter Meier. Seit dreissig Jahren ist er nun trocken. Und er ist froh und dankbar, dass er die AA kennengelernt hat. «Ohne die AA würde ich heute nicht mehr leben. Die AA haben mir ein neues Leben geschenkt. Und dank der AA konnte ich etwas Sinnvolles aus meinem Leben machen», sagt er.

*Name geändert

www.anonyme-alkoholiker.ch