Wo Mädchen sich treffen

Von einem Sixpack, von strengeren Regeln für Mädchen, der Venus von Willendorf, von Körpernormen, von heiklen Gesprächen und Informationen zu Sucht und wachsenden Brüsten– und davon, dass Ashley Graham selbstsicher ist. Zu Besuch im Mädchentreff Punkt 12 in Bern.

Rahel Mueller, Adelita Besic und Chloé Restauri leiten den Treff. Sie organisieren Anlässe, beraten und informieren die Mädchen und unterstützen sie dabei, ihren Weg zu finden.
Foto: Team Punkt 12.

Ein Foto hängt an der Wäscheleine, von einer blauen Klammer festgehalten. Die Venus von Willendorf. „Aber die ist blutt!“, ruft Jamie. „Blutt ist nicht schön!“ Alle Mädchen hatten sich einen anderen Namen ausgesucht, das ist cool. Sie lachten, redeten und kreischten ein bisschen, klebten sich den neuen Namen auf das T-Shirt, damit die Journalistin wusste, wer was sagte. Da hängt noch ein zweites Foto. Drei Ägypterinnen. Feingliedrig, mit langen und dünnen Armen. Ein weiteres Foto zeigt Marlene Dietrich, mit Hut, weisser Bluse, Jackette. Sie hat eine Zigarette zwischen den Lippen. Sie brennt nicht. „Ich finde dieses Foto schön“, sagt Gwendolyn. „Die Mode gefällt mir.“ Das Mädchen trägt ein grün-weiss gestreiftes T-Shirt. Weinrote Hosen, weisse Cowboystiefel. Ihre lockigen Haare hat sie über der Stirn mit einer Nadel nach hinten gesteckt. Deborah sagt: „Bikinimodels? Ich weiss nicht warum.“

Jeanette macht beim Workshop nicht mit. Sie kommt aus Afghanistan, lebt seit zwei Jahren in der Schweiz und besucht den Vorkurs für das Gymnasium. Nun steht die Aufnahme an die Schule aber auf dem Spiel. Denn kürzlich ist Jeanette mit ihrer Familie umgezogen. Ihr Schulweg dauert nun anderthalb Stunden. Für eine Strecke. Nach dem Umzug war Jeanette nicht in Topform. Sie besuchte den Vorkurs nicht mehr. Die Hausaufgaben erledigte sie zwar. Der Schulleiter sagte aber doch, sie könne deswegen nicht ins Gymnasium. Sie solle in die 10. Klasse gehen.

Die Mädchen bestimmen, über was sie reden wollen

Rahel Mueller arbeitet seit zehn Jahren als Soziokulturelle Animatorin in der Jugendarbeit. Sie holt einen Kochtopf vom Küchenschrank herunter. Sie füllt ihn mit Wasser und stellt den Topf auf den Herd.  Seit sieben Jahren  leitet sie den Mädchentreff Punkt 12, Jurastrasse 1, 3033 Bern. Es ist der älteste solche Treff in der Schweiz, gegründet vor zwanzig Jahren. Die Mädchenarbeit steht auf zwei Säulen: Die Begegnungen organisieren und Beratung anbieten. Rahel Mueller kennt die Mädchen sehr gut. Sie vertrauen ihr. So gibt es Themen, die im Rahmen des Treffs diskutiert werden. Die Mädchen fragen auch mal gezielt an, ob sie vorbeikommen könnten. Manchmal geht es auch um heikle, sehr persönliche Angelegenheiten, und die Mädchen wünschen, ihr Anliegen im Büro zu besprechen.  Alle Themen kommen vor:  Gewalt in der Familie. Oder Gewalt in der Liebesbeziehung, mit dem Freund oder der Freundin. Und Fragen der Sexualität in jeglicher Art.
Die Mädchen kommen freiwillig in den Treff. Sie bestimmen, worüber sie reden oder nicht reden möchten. Dabei sollte die Vertrauensbeziehung eben nicht abbrechen.Wenn Rahel Mueller zu offensiv vorgeht, dann kommen  die Mädchen  nicht mehr.  „Wir müssen gut schauen, dass wir den Weg mit ihnen gehen.“

Die Venus von Willendorf. Ägypterinnen. Noch ein anderes Foto zeigt eine gut trainierte junge Frau, mit Bikinihöschen und einer schulter- und bauchfreien Rüschenbluse. „Sie ist sexy“, sagt Jamie.  Die junge Frau auf dem Foto zeigt ein Sixpack. Die Mädchen sitzen auf einer grossen Matratze im Keller, einige liegen auf dem Boden.

Von der Migrantin zur Sozialpädagogin

Adelita Besic, diplomierte Sozialpädagogin, steht vor der Gruppe und leitet den Workshop „Körpernormen und Körperformen.“ Drei Fragen müssen die Mädchen beantworten. Erstens: „In welcher Epoche würde ich mich wohlfühlen?“ Zweitens: „Was fällt mir auf, wenn ich das Bild betrachte?“ Drittens: „Was ist an mir einzigartig?“

Besic ist 1991 selbst aus dem ehemaligen Jugoslawien geflüchtet. Wegen des Kriegs konnte sie ihr Architekturstudium nicht abschliessen. Nach fünf Jahren in der Schweiz, 1996, stellte sie fest, dass sie immer nur die weniger qualifizierten Jobs machte. Da war es Zeit, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Sie beschloss, Sozialpädagogik zu studieren. Drei Jahre arbeitete sie in einer Tagesklinik in Basel, ebenso lange für die Heks als Familienbegleiterin. Dann folgte der Umzug in die Berner Agglo. Dort erfuhr Besic, dass das Leben in Basel und in einem Berner Dorf zwei Welten waren. Sie brauchte drei Jahre, bis sie in der Gemeinschaft ankam. In dieser Zeit engagierte sie sich aber im Elternforum, im Turnverein, half mit bei der Organisation der Quartierfeste. Es waren die kleinen Integrationsschritte in einer Gemeinde. Nachdem Adelita Besic die Ausbildung abgeschlossen und in der Psychiatrie gearbeitet hatte, ist es für sie nun ein Privileg, mit jungen und gesunden Menschen zusammenzuarbeiten, sie zu unterstützen und zu begleiten.

Lea sagt: „Sie ist selbstsicher“

Lulu und Lea und Lina sind zehn. Am Nachmittag sassen sie am grossen Treff-Tisch und knüpften Freundschaftsbänder mit blauen Perlen. Auch Gwendolyn, 15, flechtete ein Freundschaftsband, denn ihre Schwester hat bald Geburtstag. Um fünf Uhr  haben sie sich mit den anderen Mädchen in den Keller begeben und nehmen am Workshop mit Adelita Besic teil und überlegen sich, wie Körperformen und Körpernormen auf sie wirken. Besic fragt die Mädchen: „In welcher Epoche würde ich mich wohl fühlen?“ Jamie antwortet: „Die Zeit mit der Frau mit dem Sixpack. Weil ich dünn sein will.“ Auch Lücu würde sich wohlfühlen in der Zeit des Sixpack. Eins der Bilder zeigt Ashley Graham, ein Supermodel mit üppigen Formen, in einer Mischung  aus Dessous und Badekleid. „Wäre schöner, wenn sie dünn wäre“, sagt Stacy. „Und dass die sich auf den Laufsteg getraut.“ Lea, 10, aber findet: „Sie ist selbstsicher.“

Vor vier Wochen besuchte Deborah das erste Mal den Treff. Sie kommt aus London, lebt seit drei Monaten in Bern, spricht aber perfekt Deutsch und besucht die siebte Klasse. Der Lehrer erzählte ihr vom Mädchentreff. „Das hätte ich mich nie getraut, alleine an einen Ort zu gehen, wo ich nicht weiss, was mich erwartet“, sagte Rahel Müller als sie die Besucherin begrüsste.
Jetzt liegt Deborah auch auf der Matratze im Keller. Sie hört den anderen Mädchen zu. Doch sie sagt nichts – auch nicht auf die zweite Frage: „Was fällt dir auf, wenn du das Foto  anschaust?“ Die Mädchen betrachten das Bild, auf dem eine prominente Frau abgebildet ist. Es ist eine Castingshow-Teilnehmerin, bekannt aus der Sendung „Let‘s dance.“ Sie besitzt einen strammen Körper. „Sie inspirierte mich sehr“, erzählt Adelita Besic. „Sie tanzt wie eine Rakete.“ Gwendolyn meint: „Wenn man nicht superschlank ist, ist man schnell eine Aussenseiterin. Da hat man es immer schwerer. Man braucht Freunde, Eltern oder ein schlaues Vorbild, das einem Mut macht.“
Lulu wäre gerne die ägyptische Priesterin. „Die Kleider finde ich lustig“, sagt sie. Anna stellt fest: „Die Frauen haben unterschiedliche Körper.“

Sie ist zehnjährig, stammt aus Somalia und trägt ein schwarzes Kopftuch, einen grauen Pullover mit einem rosaroten Tutu, dazu schwarze kniehohe Stiefel und Jeans. Als Rahel Mueller sie begrüsste, fiel ihr Anna um den Hals. Dann zog das Mädchen mit einem schönen Lächeln eine Tupperwaredose aus dem Rucksack, streckte sie Mueller entgegen und sagte: „Somalischer Reis von meiner Mutter.“ Anna sitzt jetzt ebenfalls auf der Matratze im Keller.
Die Sozialpädagogin Adelita Besic erzählt, wie es ihr als Jugendliche ergangen war. „Damals betrachtete ich die Fotos meiner Mutter.“ Dann probierte sie ihre Kleider aus. „Alles war schön. Auch ihre Rundungen.“ In den 1990er Jahren aber war das nicht mehr in. „Ja“, sagt Anna. „Alles ändert sich.“
Jamies Haare sind lang und dunkelbraun. Mit einer sanften Bewegung streicht sie sich regelmässig das Haar aus dem Gesicht, als ob sie den Blick weiten wollen würde. Die junge Frau stammt aus Kolumbien. „In meiner Heimat  tragen die Frauen ein Miniteil und einen BH“, sagt sie und deutet mit den Händen einen Minirock an. „Heute sind durchtrainierte Körper  in“, sagt Adelita Besic. „Ich finde es schön, wenn man Muskeln bekommt beim Sporttreiben .“

Rahel sagt: „Man vergleicht sich immer“

Dann folgt noch die dritte Frage: „Was ist an mir einzigartig?“ Stacy sagt: „Meine Haare.“ Lulu: „Meine Haare.“ „Alles“, findet Jamie. Und Gwendolyn antwortet: „Meine Haare und meine offene Art. Ich habe Humor und bin zielstrebig.“ „Macht es Sinn, Bilder aus früheren Epochen anzuschauen?“, will Adelita Besic nun wissen. „Ja, schon“, sagen die Mädchen, „man vergleicht sich sowieso immer.“ Rahel findet: „Mit sich selber ist man immer strenger als mit anderen.“ „Ich mag die Bilder, solange ich mich selbstsicher fühle“, sagt Jamie. „Was ist das grösste Kompliment, das man dir machen kann?“, fragt Besic dann noch. Jamie hat eine Antwort: „Du bist eine schöne und nette Person, ich habe dich lieb.“

Die Praktikantin Chloé Restauri, in der Ausbildung zur Soziokulturellen Animatorin in Deutsch und Französisch, stand zu Beginn des Workshops vor dem Halbkreis der Mädchen. Sie klatschte mit den Händen auf die Oberschenkel, und sie war eine Reiterin auf einem Pferd, und alle Mädchen galoppierten und lachten. Danach zog Restauri sich an einer Liane hoch, „Ung, ung, ung“, rief sie, und als alle die Baumkrone erreicht hatten, legte sie die Hand über die Augen, genoss die Aussicht, nach links und nach rechts. Danach aber fiel sie taumelnd und wehklagend in sich zusammen –  und auch die Mädchen sanken taumelnd und wehklagend ein. Dann aber galoppierten alle Mädchen, „Tadam, tadam, tadam“, wieder. Und diesmal kamen alle gut ins Ziel.

„Ein Geschlecht inszeniert man“

Rahel Müller wäscht den Salat. Jeanette füllt Reibkäse in Schüsselchen, legt Messer und Gabel auf die Teller, daneben je einen farbigen Plasticbecher. Es sieht aus wie in einer WG, ein Treiben geradezu wie bei einem Bienenschwarm. Lulu, Lea und Lina gucken sich auf Google Einhörner an. Sie kichern und lachen. Gwendolyn sitzt auf dem Sofa, vor ihr auf dem Tisch liegen Flyer, auf denen junge Frauen und Männer abgebildet sind, einige davon kennt sie. Nun schneidet sie die Leute aus und bastelt eine Collage. 

Rahel Mueller ist in einem Dorf aufgewachsen. Im Kindergarten waren sie drei Mädchen. Mit dem Beginn der ersten Klasse besuchte sie die Rudolf-Steiner-Schule – gemeinsam mit 18 Mädchen. Für sie war das eine wichtige Erfahrung. Ihr Erlebniskreis weitete sich. Als Soziokulturelle Animatorin schrieb sie kürzlich ihre Masterarbeit zum Thema „Doing gender“. Die Frage lautete: „Wie leben Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter ihr Geschlecht?“ Mit ihrer Teamkollegin Stefanie Plutschow kam sie zum Schluss: „Ein Geschlecht hat man nicht. Ein Geschlecht inszeniert man.“
Und so erklärt die Leiterin des Mädchentreffs auch, warum es diesen braucht – weil die offene Jugendarbeit sehr oft bubenlastig ist. „Jugendtreffs werden generell von 60 bis 100 Prozent der jungen Männer aufgesucht. Die jungen Männer haben ihre berechtigten Ansprüche und ihre Schwierigkeiten.“ Für Mueller geht es denn auch nicht darum, Benachteiligungen gegeneinander auszuspielen oder darüber zu streiten, wer jetzt welche Bedürfnisse hat. „Nur,“ so findet sie, „das mit dem Geschlecht ist eine schwierige Sache, weil es so unglaublich deutlich macht, wer mit wie viel Ressourcen auskommen muss.“

Dass auch die Mädchen zum Zug kommen müssen, hatte daher bei der Gründung des Punkt 12 1998 erste Priorität. Auch in der Stadt Bern bestehen viele Treffs, die überwiegend von jungen Männern besucht werden. Also ist es sehr, sehr schwierig, die Mädchen gezielt anzusprechen. Zudem, wissen die Leiterinnen, sind in zahlreichen Familien die Mädchen strengeren Regeln unterworfen. Es wird also viel genauer hingeschaut, wo sie sich aufhalten. „Da kann man in einem gemischten Treff noch lange tolle Angebote für Mädchen machen“, sagt Mueller. „Man kann sich zum Beispiel noch so sehr um eine nichtsexistische Kultur bemühen, wenn der Treff diesen Ruf hat oder die Eltern dieses bestimmte Bild besitzen, weil sie nicht wollen, dass die Mädchen in ihrer Freizeit mit Jungs „abhängen“. Dies ist ein Argument für einen solchen Rahmen, wie ihn der Mädchen Treff Punkt 12 bietet“, sagt Rahel Mueller. „Wir erreichen sonst jene Mädchen nicht, die in konservativen, bildungsfernen oder armen Familien leben. Mädchen aus solchen Familien haben aber einen sehr hohen Bedarf an verschiedenen Arten der Unterstützung. Bei diesen jungen Frauen sieht die Ablösung vom Elternhaus noch einmal ganz anders aus.“ Was die Mädchen der Leiterin erzählen, bringt sie manchmal in den Clinch. „Wenn es um Gewalt in der Familie geht. Wenn  ein Mädchen erzählt, dass es zu Hause geschlagen wird, aber verhindern will, dass etwas nach draussen dringt. Da ist es auch gut, dass wir in einem Team arbeiten, und nicht alleine sind.“ Zusammen mit den Mädchen schauen Mueller und ihre Kolleginnen dann, wie sie eine Lösung finden können, so dass sich die Mädchen kompetenter fühlen und ihren Weg gehen können. Doch alles, was im Treff besprochen wird, bleibt im Treff, denn die Leiterinnen sind an die Schweigepflicht gebunden.
Jeanette kommt aus Afghanistan. Rahel ist Somaliierin,  Jamie Kolumbianerin.  Lili stammt aus Albanien. Und dann ist da noch die Engländerin Deborah. Alle befinden sich also in einem Integrationsprozess. Adelita Besic weiss aus eigener Erfahrung: „In dieser Zeit brauchen die Mädchen sehr viel Betreuung. Sie probieren verschiedene Lebensentwürfen aus. Ich sehe mich da auch als Vorbild. Ich kann den Mädchen zeigen, dass es auch mit einem Migrationshintergrund möglich ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.“ „Eine schwierige Frage“, antwortet die Mädchenarbeiterin dann auf die Frage, ob das Beschreiten eines solchen Wegs auch Mut brauche. Sie sei in einer liebevollen und gebildeten Familie aufgewachsen. „Eine gute Ausbildung war für meine Familie wichtig.“ Als sie sich für den Beruf der Sozialpädagogik entschied, fragte sie sich: „Wie gestalte ich diesen Weg? Was kann mich dabei unterstützen?“ Was ihr auf ihrem Weg geholfen hat, das vermittelt sie heute an die jungen Frauen. „Wir suchen nach Wegen, beraten, informieren, kochen und essen zusammen, spielen Uno  und gucken Einhörner an. Wir bauen also Beziehungen auf. Dies ist auch ein wenig wie Architektur.“ Und so schliesst sich auch der Kreis zu ihrem ersten Studium im ehemaligen Jugoslawien.

Auf dem Tisch steht eine grosse, weisse Platte. Jeanette hat gelbe Peperoni in Streifen geschnitten und sie aufgetürmt. Jetzt rüstet sie eine orange Peperoni.  Lulu, Lea und  Lina  schauen im Internet Fotos von Tierbabys an. Vier weitere Mädchen sitzen auf dem Sofa und schauen auf ihre Smartphones. Deborah hat tausend Followers. Sie reicht Gwendolyn ihr Telefon.

Die Geschlechter fliessen ineinander

Rahel Mueller holt die Spaghetti aus dem Schrank. Sie ist in einem recht feministischen Haushalt aufgewachsen. Ihre Eltern teilten sich Betreuungs- und Erwerbsarbeit. Mal verdiente die Mutter das Geld für die Familie, mal der Vater.  „Meine Eltern lebten nicht nach einer stereotypien Rollenverteilung.“ Die Mutter habe immer gesagt: „Du musst eine gute Ausbildung machen, damit du finanziell unabhängig bist.“
Muellers Ausgangslage als Mädchenarbeiterin war etwas speziell, da sie bereits als Jugendliche für gewisse Themen sensibilisiert war. Bereits früh hatte sie Einblick in andere Familien und wusste: „Was ich habe, ist nicht Mainstream. Ich habe von meiner Familie ein Bewusstsein für die Gleichheit der Geschlechter mitbekommen. Ich habe sicher ein fortschrittliches Familienverständnis, was die Arbeits- und Betreuungsverhältnisse betrifft.“ Allerdings ging auch in ihrer Familie nicht immer alles reibungslos vor sich. „Die Idee, sich die Erwerbs- und Betreuungsaufgaben zu teilen, war für meine Eltern sehr wichtig.“ So schrieb Rahel Mueller ihre Masterarbeit zum Thema „Doing-Gender“ . Es geht dabei – in der Fachsprache, auch um den Begriff des „Gender-Fluid“, also des Ineinanderfliessens der Geschlechter. „Dadurch verändert sich das Frauenbild. Das ist logisch. In meiner Jugend hatte ich relativ klare Ideen darüber, dass Männer so und Frauen so sind – und dass man dies angleichen sollte. Alle können alles. Heute glaube ich eher, dass man auch dafür sorgen muss, dass die Frauen gefördert werden.“ Heute bewegt sich für Rahel Müller im Bereich „Gender-Fluid“ sehr viel. „Es ist zwar noch nicht Mainstream, dass ein Junge sagen kann 'Ich bin ein Mädchen' und ein Mädchen sagt 'Ich bin ein Junge', aber es geht in diese Richtung. Dadurch hat sich auch meine Vorstellung der Geschlechter geändert.“ Kürzlich habe sie in einer Onlinezeitung ein Porträt über einen 77jährigen Sexualforscher gelesen. „Er sagte: 'Es gibt so viele Geschlechter wie Menschen auf der Welt.' Der Satz hat mich beeindruckt. Ich finde das eine supergute Zusammenfassung.“
Mädchen müssen ihre Rollen suchen, betont Rahel Mueller. Es ist der Treffleiterin, ihrer Teamkollegin Adelita Besic und der Praktikantin Chloé Restauri daher ein Anliegen, den Mädchen mit Workshops, Filmen und Büchern zu vermitteln, dass nicht nur die Rolle der Hausfrau und Mutter in Frage kommen. „Frauen leben auch andere Lebensentwürfe, aber nach diesen muss man suchen. Da hat sich in den letzten 20 Jahren viel bewegt“, sagt Rahel Mueller. Es lägen Welten dazwischen, wie ihre Grossmutter, ihre Mutter und sie aufgewachsen seien. „Ich hoffe, dass es in diesem Tempo weitergeht und bin da sehr zuversichtlich. Frauen lassen sich ihre erkämpften Freiheiten nicht mehr so einfach nehmen.“ So ist auch Berufswahl im Treff 12 ist ein riesengrosses Thema. Das sei schon bei der Gründung so gewesen und daran habe sich nichts geändert, erzählt Rahel Mueller und ergänzt: „Es ist für die Biografie entscheidend, ob eine junge Frau finanziell auf eigenen Beinen stehen kann oder nicht.“ Damit die jungen Frauen auch von anderen Lebensentwürfen erfahren, laden die Leiterinnen berufstätige Frauen ein.  So kam kürzlich eine Journalistin zu Besuch und erzählte von ihrer Arbeit. Auch bekamen die Mädchen die Gelegenheit, einer Sanitäterin, die mit dem Ambulanzfahrzeug unterwegs ist, zuzuschauen, wie sie die medizinischen Instrumente handhabt und ihr Fragen zur Ausbildung zu stellen. Welche Frauen kamen noch zu besuch? Berufe? Wie reagieren die Mädchen? Gibt es Workshops zum Thema? Wann beginnen die Mädchen mit der Schnupperlehre?

Safer Sex, Mobbing, Sucht

Im Mädchentreff fällt das lange Regal mit unzähligen Zeitschriften und Broschüren auf. Sie liegen nicht zufällig dort. Es geht um die Themen Sex, Verhütung, Pubertät, Mobbing oder auch  Sucht. Die Mädchen können im Treff oder zu Hause durch die Broschüren blättern, sich erste Informationen holen und wenn sie Fragen haben, können sie sich an die Leiterinnen wenden.
„Safer Sex... sicher!“ steht auf einem der kleinen Büchlein. „Jedes Präservativ ist einzeln in einer Folie verpackt. Solange die Folie ein Luftkissen enthält, ist alles bestens.“ Oder: „Tipp: Ein kleiner Vorrat an Präservativen – am richtigen Ort – ist ideal. Für Männer und für Frauen – und egal, ob man sie gerade heute braucht.“
Die Stiftung „Berner Gesundheit“ fragt auf einer Postkarte: „Sorgen um deinen Konsum?“ Zu sehen ist eine junge, hübsche Frau, mit rötlichen Haaren und sorgfältig gezupften Augenbrauen. Vor ihr auf dem Tisch steht eine grüne Flasche Bier. Auf einer kleinen Broschüre steht: „Flyer für Jugendliche – gemeinsam gegen Mobbing in der Schule – ausgespielt.“  Von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung liegt eine 100 Seiten dicke Broschüre auf. Der Titel: „Aufregende Jahre – Jules Tagebuch.“ Jules ist sechzehn und ruft auf der zweiten Seite der Broschüre den Leserinnen zu: „Hallo ihr Süssen!“ Sie erzählt, wie ihre Brustwarzen sich veränderten. Sie war zehn und dachte freudig: „Jetzt werde ich erwachsen.“ Über Hormone wird geredet.  Ein Titel lautet: „Ich bin mein eigenes Idol.“ Die Bilder zeigen, wie Brüste wachsen oder Kondome benützt werden müssen. Und es gibt ein Rezept für Ringelblumenöl gegen Menstruationsbeschwerden.
Der Treff ist nicht nur ein Ort, an dem die Mädchen über ihre Schwierigkeiten reden. Die Leiterinnen möchten die Mädchen auch dazu inspirieren, verschiedene Hobbys auszuprobieren. Deshalb liegt auch die  Zeitschrift „Gut drauf“ auf dem Regal. So erfahren  die Mädchen zehn Gute Gründe, um Sport zu treiben.  Erster Grund: „Wer sich bewegt, fühlt sich wohl. Zweiter Grund: Gute Laune durch Bewegung. Zehnter Grund: Spass statt Frust.“
Auch das Jahresprogramm 2017 liegt auch auf dem Regal. Am 22. Februar trafen sich die Mädchen um 14 Uhr 30 beim Mädchentreff Punkt 12 – um Schlittschuh zu laufen. Am Freitag, dem 13. März 2017, stand Tanzen auf dem Programm. „Du musst kein Tanzprofi sein! Es geht vor allem darum, Spass an verschiedenen Tänzen zu haben und sich gut zu fühlen. Bring bequeme Kleider und Turnschuhe mit.“ Vom 11. bis zum 13. April waren die Mädchen draussen, bei jedem Wetter. Das Thema: „Heldinnen – wilde Tage draussen in Bern West.“ Im September machten die Mädchen die Stadt unsicher. Sie waren die „Girls in the City: „Mutige, lustige und coole Aktionen sind gefragt. Melde dich bei uns an oder komme direkt vorbei.“

Der Nachmittag ist in den Abend übergegangen. Im Treff  riecht es nach Tomatenspaghetti. Es ist Zeit für das Abendessen. Die Mädchen stecken ihre Smartphones in ihre Rucksäcke und Taschen, denn während dem Essen dürfen sie ihre Telefone nicht benützen. Alle Spielsachen und der Koffer mit den Perlen für die Freundschaftsbänder wurden auf den Billardtisch abgestellt, der nur einen Meter vom Esstisch entfernt steht.  Rahel Mueller schöpft die Spaghetti. Adelita Besic verteilt die Sauce. Die Mädchen reichen ihre Teller.

„Ein paar Frauen sind Supermodels. Drei Milliarden sind es nicht“, steht auf dem Plakat im Mädchentreff Punkt 12 mit der üppigen Puppe auf dem Sofa. Sie könnte die Venus von Willendorf sein.

Es könnte die Venus von Willendorf sein.
Foto: Morena Pelicano