Die lügen nicht, die Präventionsfilme

Zwei beige Linien Heroin lagen auf der schwarzen Kassettenhülle und Stephanie D. dachte, sie sei schlauer als der Rest der Welt.


Stephanie D.: «Ich dachte, es kann gar nicht sein, dass so eine kleine, beige Linie Macht über mein Leben bekommt.»

Es war Samstag. Anfang Sommer. Die warmen Temperaturen hatten auch Stephanie D.s Clique nach draussen gelockt. Oberhalb der Stadt, beim Wasserreservoir, dort, wo die jungen Leute unter sich waren und keine Blicke von Erwachsenen ihr Tun beobachteten und kontrollierten, hatten sie lange Frisbee gespielt. Sie alle wohnten in der Stadt, einige waren schon 18 Jahre alt, in der Ausbildung, hatten ein Auto und waren gut drauf. Die anderen Jungen und Mädchen aus der Clique gingen noch zur Schule.

Am Tag zuvor war die 12-jährige Sekundarschülerin auf ihren Lieblingsbaum geklettert, hatte sich auf einen Ast gesetzt, die Beine baumeln lassen, die Welt von oben betrachtet. Danach hatte sie auf der Schaukel gesessen, auf dem Spielplatz vor dem Block, bis ihre Mutter sie zum Abendessen rief. Als sie die Haustüre öffnete, hatte sie ihren Vater brüllen gehört. Andauernd war er wütend, er trank und schlug die Mutter, die alles ertrug und den Schein nach aussen zu wahren versuchte. Das Mädchen war nicht gerne zu Hause, weil der Vater immer rumbrüllte und weil sie kaum zusehen konnte, wie die Mutter den Schein nach aussen wahrte.
Schon im Kindergarten war sie ein Kind gewesen, das immer durch den Raum rannte, nie ging, beständig auf dem Stuhl herumzappelte, wenn die Kindergärtnerin eine Geschichte erzählte, und zu Hause, am Tisch, beim Essen, hatte es immer mal wieder eine Ohrfeige von ihrem Vater gesetzt, weil sie zappelte und nicht still sitzen konnte. In der ersten oder zweiten Klasse hatte Stephanie D. Ritalin geschluckt, Jahrzehnte später erfuhr sie, was ihr damals verabreicht wurde.

Nach der Schule machte sie Sport: Kunstturnen, Schwimmen, Turmspringen, Tauchen, Tanzen, Kanufahren. In der Schule glänzte sie in Mathe, Geometrie und Geografie mit Fünfen und Sechsen. Am liebsten war ihr das Zeichnen. Das Mädchen war noch sehr kindlich in ihrem Verhalten, sie hatte kein Interesse an der Welt der Erwachsenen und insgeheim wünschte sie sich, nie in die Pubertät zu kommen, weil sie nicht wollte, dass da an ihrem Körper irgendwas wuchs. Doch jetzt, hier mit der Clique, beim Wasserreservoir, auf der Wiese neben dem Feldweg, der zu den weit entfernten Bauernhäusern führte, hier, wo der Wald nur einen Ballwurf entfernt die erste Sommerwärme schluckte, jetzt, da sie um das kleine Feuer sassen und die Älteren ein Bier tranken und eine Zigarette rauchten, fühlte sie sich wohl.

Megakrass, einfach tot

Am späteren Nachmittag, als die anderen faul und träge im Gras lagen, plauderten, lachten, rief Peter, er sass im Auto, nahe am Waldrand, ihren Namen. Sie schaute hoch, da winkte Peter sie zu sich und als sie neben ihm stand und fragte, was es denn gebe, da sagte er: «Ich habe eine Überraschung für dich. Setz dich auf den Beifahrersitz und mach die Türe zu.» Im Auto war es schwül, es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch. Peter beugte sich nach vorne, zum Handschuhfach, klappte das Türchen auf und holte eine Kassettenhülle hervor. Sehr vorsichtig. Auf der schwarzen Oberfläche befanden sich zwei beige Linien aus einem Pulver. In der anderen Hand hielt Peter eine zusammengerollte Zwanzigernote. Im Auto war es sehr still. Die 12-Jährige wusste, was das für zwei Linien waren, sie wusste, wie die Überraschung hiess: Heroin.

Die Hitze im Auto legte sich als dünner Schweissfilm auf Stirn und Unterarme. Die Schülerin betrachtete die zwei Linien. Erst vor zwei Wochen hatten sie in der Schule den dritten Präventionsfilm gegen Drogen gesehen. Es begann mit einem ersten Joint, man rauchte Haschisch, ein Gefühl, als segle man leicht und schwerelos, von unsichtbaren Flügeln zum Himmel getragen, über die Welt, über die Welt in ihrer eintönigen, grauen Farbe, mit ihren grauen Menschen, grauen Häusern, grauen Strassen. Haschisch, so lernte das Mädchen mit den zarten Gesichtszügen, verzauberte die Welt für einen kurzen Augenblick in eine bunte Kirmes, liess einen, wenn sich die unsichtbaren Flügel in graue Schwere verwandelten, zu Boden krachen und kaum war man wieder bei Sinnen, so sehnte man sich nach dem nächsten Joint, und ja, so sagten es die Präventionsfilme, dann war man abhängig von Haschisch. Und, belehrten die Präventionsfilme weiter, wer regelmässig Haschisch rauchte, der würde irgendwann eine stärkere Droge wollen, an das Haschisch gewöhnte sich der Körper, keine Flügel, keine bunte Kirmes, nur noch grau in grau die Welt. Und dann nahm man das erste Mal Heroin. Doch wer Heroin spritzte, rauchte oder sniffte, der starb, ein paar Monate nach dem ersten Flash war man tot. Megakrass, hatte die Sekundarschülerin gedacht, als sie den Präventionsfilm sah.

Eine Schweissperle rann über ihre Schläfe. Auf ihrem zarten Gesicht zeigte sich keine Regung. Peter lächelte, hielt in der einen Hand die schwarze Kassettenhülle, einmal pusten, dachte das Mädchen, und die zwei Linien würden sich in Staub verwandeln. Peter lächelte, hielt in der anderen Hand die zusammengerollte Zwanzigernote. Im Wald sangen die Vögel.

In der Stadt hatte sie auch schon Jungs gesehen, von denen sie wusste, dass sie Haschisch rauchten. Sie hatte es auf der letzten Party gehört. Da hatte einer gesagt, der Jürg, er kiffe jetzt regelmässig, und von einem anderen, er hiess Markus, hatten sie auf der Party gesagt, voll krass, er spritze Heroin. Im Präventionsfilm sagten sie, wer Heroin nahm, der war nach drei oder vier Monaten tot, im Sarg, begraben, unter der Erde. Megakrass, hatte sie gedacht, als sie den Präventionsfilm in der Schule gesehen hatte. Megakrass, die starben, einfach tot, begraben, unter der Erde.
Stimmt doch nicht, was die da im Film erzählen, hatte sie gedacht, als sie in der Stadt Jürg sah. Er hatte mit seinen Kumpels vor dem Kino gestanden, eine Zigarette geraucht, gelacht, herumgealbert. Der war doch vollkommen lebendig, quietschfidel, der kiffte, war nicht tot. Ein paar Tage später hatte sie Markus gesehen, im Supermarkt vor der Kasse, frisch gebräunt, gut aussehend, munter, quietschfidel, überhaupt nicht tot.

Die Schweissperle kitzelte sie am Haaransatz. Unbeweglich blieb sie sitzen. Die zwei beigen Linien lagen auf der schwarzen Kassettenhülle. Körnig, illegal, wer Heroin konsumierte, der war ein paar Monate später tot, unter der Erde, megakrass, dachte sie. Aber Markus spritzte seit einigen Monaten, der sah gesund aus, dem ging es doch gut, hatte Geld und war in den Ferien gewesen.
Letzte Woche, auf dem Weg zum Kunstturnen, hatte sie Adrian gesehen, sie kannte ihn, so wie ihn fast alle kannten. Adrian spritzte Heroin, das wusste man einfach in der kleinen Stadt, und Adrian sah schlecht aus, eingefallenes Gesicht, ausgemergelter Körper, und wenn er ging, dann sah es immer so aus, als ob die Beine dem Oberkörper nachrennen würden. Als sie Adrian gesehen hatte, war sie weitergeeilt, zum Kunstturnen, hatte sich gefragt, warum tut er sich das an, ihm geht’s doch gar nicht gut, das sieht man doch. Im Präventionsfilm hiess es, der Entzug von Heroin daurte drei Wochen, das, so dachte sie, ist ja keine Ewigkeit, dann geht’s dir eben drei Wochen mies, aber dann hast du es hinter dir und es geht dir wieder gut.
Eine zweite Schweissperle rann über ihre Schläfe. Es kitzelte. Sie schaute auf die zwei beigen Linien, verdrängte aus ihrem Kopf das Bild von Adrian, dem eingefallenen Gesicht, dem ausgemergelten Körper, sah Jürg, quietschfidel an der Supermarktkasse, braun gebrannt, munter, überhaupt nicht unter der Erde.
Die lügen doch, dachte sie, als sie im Auto sass, die lügen in diesen Präventionsfilmen, die wollen mir Angst machen, ich glaub denen das nicht, die lügen. Jürg war munter, auch die anderen, von denen hinter der Hand geflüstert wurde, dass sie Heroin konsumierten, die sahen alle quietschfidel aus, die waren überhaupt nicht tot, überhaupt nicht unter der Erde, im Sarg, im Grab.
Die Schweissperle auf der Schläfe kitzelte. Das Mädchen bewegte sich nicht, schaute die Linien auf der schwarzen Kassettenhülle an, sah die Bilder aus dem Präventionsfilm, sah die Jungs, quietschfidel, nicht im Sarg, im Grab, unter der Erde. Betrachtete die zwei beigen Linien auf der schwarzen Kassettenhülle. Wie nur soll so eine dünne Linie Macht über mein Leben bekommen, dachte das Mädchen. Es war Sommer. 1982. Peter reichte ihr die zusammengerollte Zwanzigernote. Sie wusste jetzt, wie das ging, mit dem sniffen, sie hatte es soeben bei Peter gesehen.

Ihre schlanken, langen Finger griffen nach der zusammengerollten Zwanzigernote. Peter hielt ihr die schwarze Kassettenhülle hin, mit dem Zeigefinger der linken Hand verschloss sie das linke Nasenloch, beugte sich über die beige Linie, zog kräftig hoch, reichte Peter die Zwanzigernote, lehnte sich im Autositz zurück und jedes einzelne Heroinmolekül explodierte in ihrem Hirn zu einem einzigartigen, nie vergessenen Flash. Geborgenheit umarmte sie, unendlich wie das Universum, ein noch nie erlebtes Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit strebte von ihrem Kopf durch den Körper, zu den Fingerspitzen, in die Zehen, alles einfach nur noch Wonne, eingepackt in ein Gefühl, weicher als Watte. In jeder Zelle ihres Körpers pulsierte und sprudelten Wonne und Wohlgefühl, es war sagenhaft, so etwas unvorstellbar Schönes hatte sie in ihren 12 Jahren noch nie erlebt. Sie glitt auf Wolkenfüssen durch diesen Sommertag, der Himmel blau, die Wiesen grün und die Sonne so schön und alles war Glück, Wohlgefühl, Geborgenheit. Irgendwo am Rande erinnerte sie sich noch kurz an ihre Eltern, alles Millionen Meilen entfernt. Sie wurde emporgetragen von einer Welle, die sie zum höchsten Gefühl führte, das sie in ihrem 12-jährigen Leben je empfunden hatte. Nicht mal auf ihrem Lieblingsbaum, wenn sie hinaufkletterte, sich auf einen Ast setzte und die Beine baumeln liess, erlebte sie ein solches Gefühl von Glück und Wohlbehagen.

Nach dem Wochenende begann wieder die Schule. Sie sass im Matheunterricht und dachte an die beige Linie auf der schwarzen Kassettenhülle. Sie hatte ein Geheimnis. Sie durfte es niemandem erzählen. Das war spannend. Sie war immer noch das 12-jährige Kind, das sie war, bevor sie Heroin probiert hatte. Sie lebte von Tag zu Tag, ging in die Schule, zum Kunstturnen, Schwimmen, Tauchen, Turmspringen, Kanufahren. Wenn der Vater laut brüllte und prügelte, ging sie hinaus, setzte sich auf die Schaukel und wartete, bis es in der Wohnung still wurde.

Warten auf Drogen in der Bronx

Als sie in der Sekundarschule war, machte sie oft Ferien mit ihren Eltern. Griechenland, Spanien, Zypern, Mallorca, USA. Im Gepäck Valium und Seresta, auf dem Schwarzmarkt gekauft, zum Dämpfen. Die Schülerin war nicht schlauer als der Rest der Welt, jetzt brauchte sie die Droge, immer so viel, dass sie nicht in den Entzug kam. Und sie fand es überall, das Heroin, fand die Drogenszene und die Dealer, sie sah es den Leuten an, die konsumierten, folgte der Spur der Sucht, sniffte Heroin in Griechenland, Spanien, Zypern, Mallorca, den USA.
Und dann, in den USA, in New York, ihre Eltern erholten sich im Hotel, fuhr sie mit der U-Bahn in die Bronx, ein mulmiges Gefühl im Bauch, weil sie viel Schreckliches über diesen Ort im TV gesehen hatte. Fand einen Park, setzte sich auf eine Bank, wartete. Ringsum Häuser, die Fenster mit Brettern vernagelt, sass sie da, wurde angestarrt aus der Ferne, schwarze Männer, wartete und ging wieder zur U-Bahn, kein Heroin in der Tasche. Im Hotel dann Kopfschmerzen, Rückenweh, Übelkeit, Erbrechen, und die Erkenntnis traf sie wie einen Schlag in die Magengrube: Entzug! Die Eltern glaubten ihr die Geschichte von der Magengrippe.
Zwei Tage später war sie bei ihrer Cousine in South Carolina, sagte, sie wolle sich die Stadt ansehen, liess sich von ihrem Instinkt leiten, fand einen Dealer, sniffte Heroin, alles war wieder gut. Sie hatte eine Quelle für die nächsten drei Wochen, das Heroin viel billiger und viel besser als in der Schweiz.

Eines Tages dann, zu Hause, nach der Schule, das grosse Drama. Eine Spritze in einer Tüte, versteckt im Schrank. Entsetzt die Eltern, ja, sie nahm seit Jahren Heroin, die Mutter flehte sie an, damit aufzuhören, der Vater sagte, wenn sie schon fixe, was sie aber nicht tat, dann solle sie es zu Hause machen, und nicht auf einer Toilette, das Schreckensbild aller Eltern, ihr Kind, auf dem Toilettensitz zusammengekrümmt, düster, schmutzig, das Kind in den Krallen der Drogen.

An den Wochenenden war sie mit ihrer Clique zusammen. Es gab Partys, bei Freunden von Freunden, Rockmusik, Bier, Zigaretten und Joints und eine Linie Heroin für die Schülerin. Sie rauchte keine Joints, trank keinen Alkohol, das war nichts für sie, wenn die Welt sich zu drehen begann. Irgendwann rauchte sie die erste Zigarette. Das Nikotin schmeckte ihr nicht, doch der Geschmack des Verbotenen lockte erneut. Sie war 16 Jahre alt, Heroin sniffen war zur Gewohnheit geworden, sie wurde immer zu einer Linie eingeladen und dann, als sie die Sekundarschule abschloss und das 10. Schuljahr begann, weil sie keinen Plan für die Zukunft hatte, lernte sie über einen Freund, der ihr auch schon mal unter der Woche eine Linie Heroin anbot, einen Dealer kennen. Ihm gefiel das feingliedrige Mädchen, das mit 16 Jahren aussah wie zwölf. Und die Linien, die er ihr immer wieder offerierte, waren für ihn ein Kundengeschenk.

Schnell, schnell auf den Platzspitz

Mitte der 80er-Jahre begann sie ihre Ausbildung im Kaufmännischen bei einer Bank in Zürich. Sie hatte zwar immer gesagt, das KV mache ich nicht, aber weil sie keinen anderen Plan für ihr Leben hatte, machte sie es dann eben doch. Jeden Tag fuhr sie von der Stadt, in der sie noch bei ihren Eltern wohnte, nach Zürich, in die Bank, arbeitete acht Stunden, so wie alle anderen Menschen auch in der Schweiz. Über Mittag eilte sie, in der Hoffnung, von niemandem, der sie kannte, gesehen zu werden, auf den Platzspitz, eilte vorbei an jenen bedauernswerten Geschöpfen, verwahrlost, schmutzig, obdachlos, mit die Spritze in der Hand, den Ledergürtel um den Oberarm geschnallt, die Augen glotzend und gerötet, die Fingernägel schwarz und die Haare fettig und verfilzt, sassen sie da, zitternd, sabbernd, erledigt, die Nadel in der Vene, kaum noch die Kraft, den Kolben runterzudrücken. Sie trug ihre Arbeitskleidung, schwarze Hose, weisse Bluse, blauer Blazer, schwarze Schuhe, dezentes Make-up, manikürte Fingernägel, Pferdeschwanz. Sie duftete nach Weichspüler, geordnetem Leben und gutbürgerlicher Arbeitsmoral. Sie war nicht die Einzige. Sie waren viele, in schwarzer Hose, weissem Hemd, blauem Blazer, die Männer mit dezent gemusterten Krawatten, die Frauen mit klackernden Absätzen. Die KV-Stiftin kannte die Gesichter in der Drogenszene, die Dealer, die Konsumenten, die Vermittler, die Neuen und jene, die seit Jahren an der Nadel hingen und alles verloren hatten: Wohnung, Job, Freunde, Familie. Sie schliefen in Hauseingängen oder auf einer Bank im Park, sie mussten jeden Tag Geld für die Drogen beschaffen, standen mit einem Bein im Gefängnis, benutzten alte Spritzen, hatten schreckliche entzündete Geschwulste an den Armen. Sie eilte an ihnen vorbei, das Heroin in der Handtasche, eilte zurück zur Bank, noch eine halbe Stunde, dann musste sie wieder am Schreibtisch sitzen. Sie eilte, betrat die Toilette, schloss die Türe ab, setzte sich auf den Toilettendeckel, atmete drei Mal ein und aus, kramte in ihrer Handtasche, holte das Heroin heraus, zog auf dem Deckel des Spülkastens eine beige Linie, rollte eine Zwanzigernote zusammen, beugte sich über das Heroin, drückte mit dem linken Zeigefinger das linke Nasenloch zu, zog das Pulver hoch, verwischte die Spuren auf dem Deckel des Spülkastens. Rückte die Bluse zurecht, schloss die Türe auf, ging ins Büro, grüsste ihre Arbeitskollegen, arbeitete so, wie alle anderen Menschen auch in der Schweiz.
Es wurde Abend, sie verabschiedete sich von ihren Arbeitskollegen, eilte, in der Hoffnung, von niemandem erkannt zu werden, Richtung Platzspitz, sie fand, was sie suchte, schob es in die Handtasche, eilte zum Bahnhof, nahm den Zug, ging nach Hause, sniffte eine Linie Heroin.

Seit fünf Jahren konsumierte sie Heroin. Sie hatte gedacht, sie wäre schlauer als der Rest der Welt, nur ein einziges Mal konsumieren und wissen, wie das ist, und das Gefühl war einfach unglaublich sensationell, brannte sich tief in ihr Hirn ein, gespeichert über Jahrzehnte, die Erinnerung an das erste Flash, und die ersten zehn, fünfzehn Linien liessen die Heroinmoleküle in ihrem Gehirn explodieren, trugen sie fort in einem unglaublichen Rausch der Geborgenheit, und mit jeder Linie, die sie fünf Jahre später hochzog, hoffte sie darauf, noch einmal dieses Gefühl zu erleben, diese sagenhafte Geborgenheit, eingepackt in etwas, das weicher war als Watte. Doch jetzt, an diesem Abend in ihrem Zimmer, nach der Arbeit in der Bank, als sie sniffte und sich aufs Bett sinken liess, war da nichts mehr von diesem Gefühl, keine Geborgenheit, nichts, das weicher war als Watte, nur Müdigkeit, ganz gewöhnliche Müdigkeit.

Kalter Entzug, durchstehen, nächste Linie

Alles ging weiter, jeden Tag arbeitete die junge Frau in der Bank, eilte zum Platzspitz, eilte zurück, ging in die Toilette, sniffte Heroin, arbeitete, am Abend wieder Platzspitz. Ausser den Eltern wusste niemand, dass sie drogensüchtig war. Immer gepflegt, sauber, freundlich, bei der Arbeit zuverlässig, hatte sich eingelebt in ihr Doppelleben, schlängelte sich durch zwischen Bank und Platzspitz. Die Mutter flehte sie an, einen Entzug zu machen. Ja, klar doch, der Mutter zuliebe ging sie für zwei Wochen in eine Klinik, kalter Entzug, keine Medikamente zum Dämpfen und Schlafen, nicht mal Kaffee oder Schwarztee. Einfach durchhalten, der Mutter zuliebe. Sie stand es durch, packte den Koffer, setzte sich in den Zug nach Zürich, spürte dieses Reissen nach dem Heroin, dieses unstillbare Verlangen tief in ihrem Körper drin, das erste Flash eingebrannt in ihrem Hirn, unauslöschlich die Sehnsucht nach diesem sagenhaften Gefühl der Geborgenheit. Am Hauptbahnhof in Zürich stieg sie aus dem Zug, nahm das Tram, fuhr zum Platzspitz, alles wie immer, ihr Körper krampfte sich vor lauter Erwartung auf die erste Linie nach zwei Wochen zusammen, das Heroin wechselte die Hand, sie eilte zum Bahnhof zurück, schloss sich in der Toilette ein, noch ein einziges Mal dieses Flash, dieses sagenhafte Gefühl, diese unglaubliche Geborgenheit, wie damals, vor fünf Jahren, oben beim Wasserreservoir, als sie dachte, sie sei schlauer als der Rest der Welt.

Als sie die Ausbildung begonnen hatte, traf sie ab und zu ihre alten Kollegen und Kolleginnen, sie luden sie ein, zum Campen, Skifahren, zu einem Open-Air. Anfangs ging sie mit, hatte genug Geld und kaufte Heroin für einige Tage, niemand von ihren Freunden ahnte etwas. Sie sniffte Heroin, fuhr Ski, lachte, plauderte, badete im See, spielte Frisbee. Doch mit jedem Monat umschlangen sie die Krakenarme der Droge fester, sie hatte nicht immer genügend Geld, um Drogen auf Vorrat zu kaufen. Nein, dieses Wochenende konnte sie nicht mit zum Campen, sie hatte schon was anderes abgemacht, nein, sie konnte auch in drei Wochen nicht mit zum Open-Air, sie musste für eine Prüfung lernen. Sie erfand Ausreden, immer häufiger, so oft, bis ihre Freunde sie nicht mehr fragten, ob sie mitkam, zum Open-Air, an den See, Frisbee spielen.

In der Drogenszene fand sie neue Freunde. Sie waren wie die anderen jungen Menschen, lagen am See, warfen sich die Frisbeescheibe zu, schwammen, redeten, lachten, spielten Diabolo. Nur dass sie zwischendurch das weisse Pulver hervorholten, diskret, eine Linie auf der Kreditkarte zogen, unauffällig eine Banknote zusammenrollten, snifften, sich gut fühlten, so wie andere junge Menschen, man sah ihnen nichts an, sie waren sauber, die Haare gepflegt, die Körper gebräunt, die Kleider frisch gewaschen.

Zu Hause brüllte immer wieder der Vater herum, die Mutter duckte sich unter den Schlägen. Der Teenager packte seine Tasche, haute ab, zog bei Freunden ein, die nichts davon ahnten, dass ihre neue Mitbewohnerin drogensüchtig war. Sie hatte ihren ersten Freund, den zweiten, den dritten, sie fühlte sich nach zwei oder drei Wochen eingeengt, beendete die Beziehung, bezeichnete sich als beziehungsunfähig. In der Drogenszene begegnete sie Vergewaltigern und Zuhältern, sie mied die schlechten Menschen, hatte ein Gespür dafür, wem sie vertrauen konnte. Reichte das Geld nicht mehr für Drogen, sprach sie einen an, kannst du mir bis Montag Geld leihen, kannst du mir fürs Wochenende Drogen kaufen, man einigte sich, man kannte sich vom Sehen, wenn man über Mittag auf den Platzspitz eilte, in schwarzen Hosen, weissem Hemd, mit weisser Bluse und klackernden Absätzen. Man einigte sich und half sich aus, mit Drogen und Geld, man borgte und zahlte pünktlich zurück, ein Wort ist ein Wort, man benahm sich anständig, wusste um die Not des anderen, ohne Geld und Drogen, den gefürchteten Entzug im Nacken. Auch Stephanie D. borgte den anderen etwas, jeder konnte mal übel dran sein und den Entzug fürchteten sie alle, denn wenn sie auf Entzug wären, zu Hause, am Arbeitsplatz, bei den Eltern oder den Freunden, wenn sie zu schwitzen beginnen, sich übergeben würden, wenn sie zitterten und Schüttelfrost hätten, dann würde ihr Doppelleben auffliegen, das sorgfältig gehütete Geheimnis, sie borgten und halfen sich gegenseitig, hüteten ihr Geheimnis gemeinsam.

Alles lief gut, Wochen ohne Drogen

Mit 19 machte sie wieder einen Entzug. Diesmal probierte sie es mit Methadon. Obwohl sie die Bedingungen nicht erfüllte, wurde sie ins Programm aufgenommen. Jede Woche ging sie in die Apotheke, holte sich das Methadon, musste eine Urinprobe abliefern, immer negativ, alles lief gut, Wochen ohne Drogen. Doch dann wieder das Reissen, diese unstillbare Sehnsucht nach dem Flash, sie schmiss das Methadonprogramm hin, eilte auf den Platzspitz, kaufte sich Heroin, sniffte eine Linie, hatte die Lehre abgeschlossen, arbeitete weiter in der Bank, wohnte bei Freunden, alles war gut, ausser ihren Eltern wusste niemand von ihrem Doppelleben als Drogensüchtige.
Sie machte noch mehrere Entzüge, mit und ohne Methadon, mit Valium, Seresta, Schlafmitteln, blieb einige Wochen clean, und irgendwann hatte sie es satt, einfach satt, von irgendwas abhängig zu sein, wollte kein Methadon, kein Heroin, lebte zwei oder drei Wochen ohne alles, eilte auf den Platzspitz, sniffte Heroin, geriet immer tiefer in den Schlamassel, wechselte zu einer Chemiestoffhandelsfirma für Pharmazeutika, blieb vier Jahre dort, immer sauber, gepflegt, pünktlich, zuverlässig. Wohnte in einem Studio in Seebach, viel Licht und schöne Aussicht auf Oerlikon. Sie hatte alles im Griff, die Drogen, das Leben, die Arbeit.

Männer in der Nacht, der Stalker vor dem Haus

Und dann war da das furchtbare Erlebnis mit der satanischen Sekte, die tote Katze, kopfüber, mit aufgeschlitztem Bauch an die Wohnungstür genagelt, jemand stülpte ihr eine Kapuze über den Kopf, Männer in der Nacht, das Feuer, das glühende Eisen, das Brandzeichen auf dem Oberarm, die Vergewaltigungen.
Monate später lernte sie einen Mann kennen, traf sich zweimal mit ihm, er sprach von Heirat, wartete vor ihrer Haustüre, wartete nach Arbeitsschluss, wartete immer und überall auf sie, begleitete sie hartnäckig zur Arbeit, nach Hause, er war ein Stalker, drohte mit Gewalt, sie bekam fürchterliche Angst, tauchte unter, ging nicht mehr zur Arbeit, verkroch sich bei Freunden, ein Jahr lang, hatte kein Geld mehr, sniffte Heroin, fand einen Job als Kassiererin im Shop Ville, lernte ihren Freund kennen, mit dem sie seit zwanzig Jahren zusammen ist.

Es war zwei oder drei Jahre vor dem Millennium, Stephanie D. ging über die Strasse, ein Auto erfasste sie, Prellungen, ein gebrochener Arm, der gut heilte. Doch seit dem Autounfall quälten sie entsetzliche Rückenschmerzen. Computertomographie, ein Knochensplitter hatte sich zwischen die Rückenwirbel gebohrt, ein Operation ist nicht möglich. Schmerzmittel auf Opiatbasis. Arbeitsunfähig, Sozialgeld. Sie verkehrte zusammen mit ihrem Freund in der Drogenszene, versuchte sich das Leben zu nehmen, Psychiatrie, obdachlos, lebte in einem abgestellten Lastwagen, dreiviertel Jahre, wohnte bei ihrem Freund. Sie war 37 Jahre alt, bekam ein opiathaltiges Schmerzmittel, das stillte die Sehnsucht nach dem Heroin, sie ging nur noch selten in die Drogenszene, sniffte alle paar Wochen eine Linie. Es war das Jahr 2007, sie zog in das Haus Zueflucht, Fabrikstrasse 28, Zürich, lebte von einer ganzen Invalidenrente, wurde Imkerin in der hauseigenen Honigproduktion.

Die lügen nicht, die Präventionsfilme

Stephanie D. sitzt im Garten hinter dem Haus Zueflucht. Ihre Haare sind grün und lila gefärbt, die Augen dramatisch geschminkt, die Fingernägel fünf Zentimeter lang, Acryl, knallrot. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet, Plateauabsätze, Piercings, Lippenstift, Nietenbänder an den Handgelenken, schwarzes Lederband um den Hals, viel Silberschmuck an den Fingern und in den Ohren. Sie steckt sich eine Zigarette in die schwarze, 15 Zentimeter lange Filterspitze, lässt das Feuerzeug klicken, nimmt einen Zug, bläst den Rauch in die Sommerhitze hinaus und sagt: «Ich dachte, ich bin schlauer als der Rest der Welt. Damals, im Auto, als ich die zwei beigen Linien sah, dachte ich, nur ein einziges Mal probieren, nur ein einziges Mal erfahren, warum die anderen Heroin nehmen, nur ein einziges Mal, dann lasse ich die Finger davon. Ich war neugierig, als ich da im Auto sass und die zwei Linien auf der schwarzen Kassettenhülle sah. Ich dachte, es kann gar nicht sein, dass so eine kleine, weisse Linie Macht über mein Leben bekommt. Die lügen, die vom Präventionsfilm, die lügen, dachte ich.» Sie spielt mit einem schwarzen Fidget Spinner, dreht immer wieder daran, raucht ihre Zigarette.
Es sei sehr gut, hier im Haus Zueflucht, immer jemand da zum Reden. Alleine wohnen will sie nicht, sie hält das nicht aus, in den eigenen vier Wänden, die Stille, niemand da, keiner, mit dem sie Eile mit Weile spielen könnte, keiner da zum Reden, nur sie alleine in der Wohnung, nein, das hält sie nicht aus. Ihr Freund wohnt auch im Haus Zueflucht, deshalb hat sie zwei Zimmer, damit sie nicht so eng zusammen sind. Ja, sagt sie, fast alle Energie und alles Geld habe sie in die Drogen investiert, so sei das jetzt eben, sie könne das Rad nicht zurückdrehen, die Vergangenheit ungeschehen machen. Es gehe ihr gut hier, ab und zu helfe sie im Haus, habe Freude an den Bienen, hüte die Hunde ihrer Freunde, gehe an den See schwimmen und nächste Woche fahre sie auf ein Open-Air nach Deutschland, mit Freunden, die sie schon seit Jahren kenne.
Immer wieder steht sie vor Schulklassen, erzählt von ihrem Doppelleben als Heroinsüchtige, von den schrecklichen Erfahrungen mit der satanischen Sekte, verteilt Visitenkarten an die Schülerinnen und Schüler, sie weiss, dass sie Fragen haben, sich aber nicht trauen, vor der ganzen Klasse zu fragen. Und immer wieder mal ruft sie ein Schüler oder eine Schülerin an, fragt, ob sie Zeit habe, erzählt von einem Freund oder einer Freundin, die Drogen nimmt, erzählen, dass sie auch schon Drogen konsumiert haben und fragen Stephanie D. ob sie zu ihnen nach Hause komme, um mit den Eltern zu reden, denn die Jugendlichen trauen sich nicht, alleine mit den Eltern zu reden und ihnen zu sagen, dass sie auch schon Drogen genommen haben. Heute investiert Stephanie D. viel Zeit und Energie in die Drogenprävention, denn sie weiss, dass es kein guter Weg ist, wenn man Drogen konsumiert. Aber alles war auch nicht schlecht, betont sie, sie hat auch gute Freunde gefunden, hat Menschen kennengelernt, die sie auf ihrem schwierigen Weg begleiteten, die ihr ein Zuhause anboten, sie annahmen, wie sie war, sie nicht verurteilten, weil sie an den Drogen hängengeblieben war. Heute konsumiert sie noch alle zwei Monate eine Linie Heroin, obwohl sie weiss, dass sie dieses sagenhafte Flash nie mehr haben wird. «Das ist die Sucht. Das Verlangen. Das erste Flash hat sich tief in mein Hirn eingebrannt und alle paar Wochen denke ich, vielleicht erlebe ich das nochmals, diese sagenhafte Geborgenheit. Doch ich werde nur müde davon.» Irgendwann möchte sie Arabisch lernen, weil sie diese Sprache fasziniert. Und sie möchte gerne noch etwas von der Welt sehen, als Back-Packer nach Thailand oder Indien. Anderen Menschen und anderen Kulturen begegnen.
In den Bäumen hinter dem Haus an der Fabrikstrasse 28 pfeifen die Vögel. Es ist Anfangs Sommer, so wie vor 35 Jahren, oben beim Reservoir, als Stephanie D. die zwei beigen Linien auf der schwarzen Kassettenhülle sah und dachte, sie sei schlauer als der Rest der Welt.

Die kleinen Schritte machen immer Freude

Das Haus Zueflucht an der Fabrikstrasse 28 in Zürich bietet seit zehn Jahren Menschen in schwierigen Lebenssituationen ein Dach über dem Kopf an. Menschen, die obdachlos waren oder von Suchtmitteln abhängig sind, können hier etwas zur Ruhe kommen.

Sandra Keller, Sozialpädagogin und Leiterin des Hauses Zueflucht, sitzt am Tisch im Büro und antwortet auf die Frage, was das Schwierigste bei ihrer Aufgabe als Verantwortliche im Haus Zueflucht sei: «Das Aushalten ist das Schwierigste.» Viele der Bewohnerinnen und Bewohner leben seit Jahren hier. Die einen konsumieren Drogen, Alkohol, Tabletten, sie haben sich mit ihrer Sucht eingerichtet, kommen mit den anderen klar und dann, plötzlich, haben sie eine Krise. Die Sozialpädagogin spricht die Betreffenden an, erkundigt sich, woran sie leiden. «Ich hätte dann zehn Ratschläge, aber die helfen ihnen nicht. Da muss ich dann immer wieder einsehen, dass es momentan keine Lösung gibt. Und dieses Nicht-helfen-Können muss ich aushalten.»

Für alle gibt es Hoffnung

Schwierig ist es auch, wenn sie mit einem Klienten ein Coaching angefangen hat. Wenn es am Anfang gut läuft, er dann jedoch alles hinschmeisst. In so einer Situation muss sie den Entscheid akzeptieren. Aber trotzdem gibt sie die Menschen nicht auf. Denn: «Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man in jeder Situation das Leben lebenswerter machen kann. Kein Mensch ist hoffnungslos verloren, auch wenn er Drogen konsumiert. Es gibt immer eine Möglichkeit zum Aufstieg – nicht einen Ausstieg aus den Drogen, aber die Lebensqualität der Betroffenen kann man immer verbessern.»
Manchmal verhalten sich die Bewohnerinnen und Bewohner ruppig, sie schimpfen und fluchen, halten sich nicht an Abmachungen, doch bisweilen kommt der eine oder die andere am nächsten Tag mit einem Blumenstrauss und entschuldigt sich. «Das freut mich sehr, wenn ich sehe, dass sie auch über ihr Verhalten nachdenken.» Ja, und da sind eben auch die kleinen Schritte, wenn sie feststellt, dass sich eine Lebenssituation zum Guten hin verändert und auch die Klienten erleben, dass es für sie besser wird.

Zuhören ist das Wichtigste

Seit Anfang Jahr 2017 arbeitet Chris Stocker als freiwilliger Mitarbeiter im Team. Im Herbst beginnt er sein Studium in Sozialpädagogik an der Fachhochschule Luzern. Kürzlich hat er mit einigen Bewohnern ein Zimmer renoviert. Bei den täglichen Begegnungen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern stellt er immer wieder fest, dass das Zuhören das Wichtigste in seiner Tätigkeit ist. «Was mich immer wieder freut, ist, wie die Leute hier mitmachen, sei es bei einem Transport oder bei einem Umzug. Da kommt man ins Gespräch, und wenn die Menschen reden, dann finden sie oft selber eine Lösung für ihre Probleme.» Der Vorteil an ihrem Betreuungskonzept sei, dass sie sehr individuell auf die Leute eingehen könnten, da sie keinen starren Regeln folgen müssten, sagt er. «Die einen Menschen brauchen mehr Unterstützung, die anderen weniger.» Da war kürzlich das Erlebnis mit dem Bewohner, der nie sein Zimmer aufräumen wollte. Plötzlich kam er ins Büro und sagte, nun sei alles tipptopp. «So eine Veränderung erfüllt uns immer mit Freude. Wenn man sieht, wie sich ein Bewohner verbessern konnte, dass er selbständiger geworden ist, dass er ein bestimmtes Ziel erreicht hat. Das freut uns immer sehr.»

Die Franziskanische Gassenarbeit möchte ihr Wohnangebot erweitern und ist deshalb auf der Suche nach einem Haus. Wer ein geeignetes Objekt kennt, darf sich gerne bei Sandra Keller oder Chris Stocker melden. delfin@fraga.ch

Konzept Wohngemeinschaft Haus Zueflucht

Der gemeinnützige Verein «Franziskanische Gassenarbeit» mit Sitz in Zürich wurde im Jahr 2000 gegründet. Er setzt unter anderem den Zweck der Stiftung Zueflucht um. Als Träger von verschiedenen Arbeitszweigen dient er Menschen in schwierigen Lebenssituationen und hilft Personen mit psychosozialen Schwierigkeiten bei der Eingliederung in ihre gesellschaftliche Umgebung. Der Verein «Franziskanische Gassenarbeit» mit dem Angebot Wohngemeinschaft leistet somit einen wichtigen Beitrag gegen Obdachlosigkeit mit all ihren individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen wie Verwahrlosung, Isolation, einseitige, schlechte Ernährung und Krankheiten.

Zielgruppe und Aufnahmekriterien

Das Haus Zueflucht bietet niederschwellige Wohnmöglichkeiten für Frauen und Männer in schwierigen Lebenssituationen. Dazu gehören Menschen mit persönlichen Problemen, einer Abhängigkeit von legalen oder illegalen Suchtmitteln oder solche, die mit dem selbständigen Wohnen überfordert sind. Eine externe oder interne Beschäftigung ist nicht Voraussetzung. Es besteht jedoch das Angebot einer freiwilligen Tagesstruktur oder einer unterstützenden Arbeitsstruktur.

Veränderungs- und ressourcenorientiert

Das Angebot «bedürfnisorientiertes begleitetes Wohnen» verfügt über 21 Zimmer mit gemeinsamer Dusche, WC und Küche.
Als niederschwellige Institution erhebt das Haus Zueflucht keine Ansprüche an die Klientinnen, ausser der Einhaltung der Hausordnung, der Teilnahme an den WG-Sitzungen sowie dem Sauberhalten des eigenen Zimmers und des jeweiligen Stockwerkes.
Die WG Zueflucht ist aber von seiner Grundhaltung her veränderungs- und ressourcenorientiert. Deshalb wird versucht, Fähigkeiten wiederzuentdecken und/oder weiterzuentwickeln. Dabei wird den unterschiedlichen Möglichkeiten wie auch den Grenzen der Bewohner Beachtung geschenkt. Die Begleitung orientiert sich primär an sozialpädagogischen Ansätzen bzw. am Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner. Die Erhöhung der Wohnkompetenz, Sozialkompetenz, Selbstkompetenz und die Tagesstruktur stehen im Zentrum der Auseinandersetzung. Selbständiges Wohnen wird gefördert und die Begleitung den Bedürfnissen angepasst.

Mittagstisch, Gespräche und Beratung

Das Team besteht aus SozialarbeiterInnen, SozialpädagogInnen und einem Theologen und ist von Montag bis Freitag zu den üblichen Bürozeiten präsent. Im Beherbergungsvertrag sind die konkreten Vereinbarungen und Leistungen festgelegt. Im Üblichen wird lediglich die Miete des Zimmers in Rechnung gestellt. Die Wohnkosten belaufen sich monatlich auf 500.00 bis 1100.00 Fr., je nach den finanziellen Möglichkeiten des Bewohners. Die Betreuung bzw. Begleitung – Mittagstisch, Gespräche, Beratung, Vernetzung, Zimmerkontrollen und Strukturierung im Alltag – erfolgt für die Bewohner freiwillig und ist kostenlos. Die Kosten werden zum grössten Teil über Spendengelder des Vereins «Franziskanische Gassenarbeit» finanziert. Die Kosten des Zimmers werden vom Sozialamt oder den Zusatzleistungen der Invalidenversicherung übernommen. www.fraga.ch