Über das Warten

Und über das Nichtstun zwischen ankommen und weiterfahren

Es gibt diese Augenblicke beim Unterwegssein, die Zeit des Wartens, wenn der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr so langsam wie sonst nie vorwärtsrückt.

Kürzlich sass ich nach einer Wanderung an einem Bahnhof und musste eine Dreiviertelstunde auf den Zug nach Hause warten. So sass ich also da, schaute dem Zeiger auf der grossen Bahnhofsuhr dabei zu, wie er nur zaghaft und zögerlich vorrückte, und wunderte mich darüber, dass die Zeit so langsam vergehen konnte. Neben mir auf der Bank sassen ein Mann und eine Frau, beide in ihre Handys vertieft, und ich vermute, dass für sie das Warten in einer Zwischensphäre verging, die sich nicht von der Zeit unterschied, die sie auch sonst im Leben verbrachten.

Zeit, in der nichts passiert

Für mich waren diese 45 Minuten anders, denn ich sass nur da und schaute den flockigen Blumensamen zu, wie sie durch die Mittagshitze tanzten. Viel zu sehen gab es nicht. Es war ein kleiner Bahnhof, eine Zwischenstation zwischen dem Ende einer Wanderung und dem Nachhausekommen. Zeit, in der nichts passiert, und trotzdem ist diese Zeit so voller Ereignisse und Wahrnehmungen wie sonst kaum eine Zeit.

Hinter den Gleisen standen einige Häuser, schon etwas von Wind und Wetter gezeichnet, und ringsum erstreckten sich regenhungrige Wiesen und Getreidefelder. Alles lag in dieser Mittagsglut, die auch meinen Tee in der Flasche erhitzte und die mir den Schweiss auf die Stirn trieb. Wenn ich in Eile gewesen wäre, wäre ich ungeduldig auf dem Perron hin und her gegangen, denn dann hätte es mich nervös gemacht, dass der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr keine Anstalten machte, der Abfahrt des Zuges entgegenzueilen.

Ich war drei Stunden gewandert, einem teils quirligen, teils gezähmten Fluss entlang, durch Felder, Dörfer und am Schluss durch eine kleine Stadt, und ich wunderte mich, wie schnell doch die Zeit verging, wenn ich ein Ziel habe, und wenn ich es erreicht habe, würde ich am liebsten gleich nochmals von vorne beginnen, weil das Laufen so schön war und weil es so guttat, von A nach B unterwegs zu sein. Das Unterwegssein ist das Kontrastprogramm zum Warten.

Doch jetzt genoss ich diese Ereignislosigkeit und die Langsamkeit der Zeit. Dieses Nichtstun, diese Zeit dazwischen und das ist der Vorteil, wenn ich mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs bin, dass es immer wieder dieses Warten gibt, ein Warten, ohne ein Buch zu lesen, ein Warten, das nichts kennt ausser dem langsamen Zeiger der Uhr.

Dieses Nichts-gemacht-Haben nehme ich mit

Meine Wanderungen führen mich zu kleinen Städten und Dörfern. Ausserhalb von Zürich und Luzern tickt die Uhr hier anders. An den grossen Bahnhöfen ist so viel Hektik und so viel Lärm, da bleibt kein Raum fürs Staunen und Gucken, weil ich auf den Anschlusszug eile. Doch kaum eile ich nicht mehr, bleibt die Zeit stehen und ich mit ihr. Stehen bleiben ist das Gegenprogramm zum Unterwegssein, und ja, manchmal bin ich ungeduldig und ich will weitereilen, weil eilen aktiv ist. Das Warten will ausgehalten werden. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht gerade deshalb wandern gehe, weil es da diese Minuten gibt, in denen nichts passiert, ausser, dass die flockigen Blumensamen durch die Luft tanzen.

Es ist nicht still an diesem kleinen Bahnhof. Die Menschen telefonieren, sie sitzen vor dem kleinen Laden, trinken Kaffee und unterhalten sich. Autos lärmen auf der Hauptstrasse, ein Zug fährt kreischend ein, doch es ist nicht meiner. Und es ist so ein Gefühl, angekommen zu sein und am richtigen Ort zu sein, an einem Bahnhof, in der Mittagshitze, einen Weg zu Ende gegangen zu sein und dann, zwei, drei Minuten, bevor mein Zug ankommt, dieses leichte Kribbeln im Bauch und den Beinen, es geht weiter, und dann aus dieser Zeit herauszutreten, irgendwie noch benommen vom Warten, mich wieder aufs Agieren fokussierend, in den Zug steigen, etwas verwirrt ankommen in der Gegenwart und mich fragen, was habe ich denn gemacht, in der letzten Dreiviertelstunde, und dieses Nichts-gemacht-Haben nehme ich mit. So ist das mit dem Warten.

 


Beim Warten eilt der Minutenzeiger der Uhr nicht mehr und nie vergeht die Zeit langsamer. (Foto: Morena Pelicano)