Fahrplanmässige Entschleunigung

Auf dem Schiff das Leben temporär entschleunigen – das funktioniert bestens

Entschleunigen wäre, so dachte ich, auch einmal eine wertvolle Erfahrung. Einfach nur sitzen und schauen. Sonst nichts.

Auf einem Schiff, so überlegte ich, sollte die Praxis des Entschleunigens geübt werden können, denn das Schiff ist langsam, sehr langsam. Mal für einige Zeit nichts machen, keine Geranien giessen, keinen Einkaufszettel schreiben, kein Yoga und auch – das schien mir mit dem Entschleunigen nah verwandt zu sein – mal für einige Zeit gedanklich nicht auf einer Hüpfburg rumtoben. Es fehlte mir die Lust, ein entsprechendes Buch zu lesen, dann hätte ich ja noch mehr zu tun und noch mehr Gedanken würden mein Hirn fluten. Ich wollte keine Tipps und keine Ratschläge. Ich wollte nur mal ein bisschen reinschnuppern ins Entschleunigen.

Zeit, immer diese Zeit

Zeit ist ja so ein verflixtes Ding. Ich kann sie kaum ignorieren, denn das ganze Leben ist getaktet, immer dieser Blick auf die Uhr und das Kalkulieren, wenn es jetzt so spät ist, dann kann ich noch dies machen, dann reicht es noch für jenes, und wenn ich mich spute, kann ich auch noch das erledigen. So ist das im Alltag, die Zeit ist der Kommandant und ich die gehorsame Soldatin. Doch jetzt, als das Schiff bei Büren auf die Aare gelangte, war ich zeitlos und entspannt. Ist es nicht ein Paradox, dass ich für das Entschleunigen Zeit brauche, Zeit, die ich mir nehmen muss, Zeit, die ich mir organisieren muss? Zeit fürs Nichtstun haben, einfach gucken und alles langsam, sehr langsam an mir vorbeiziehen lassen.

So sass ich um 9:10 Uhr auf dem Kursschiff «Rousseau» von Biel nach Solothurn. Sobald der Motor zu brummen begann und der Kapitän das Schiff rückwärts manövrierte, verlangsamte sich die Zeit schlagartig. Fertig mit eilen und rumrennen und auch die Gedanken kamen zur Ruhe. Als sich das Wasser links und rechts teilte und den Nidau-Büren-Kanal mit sanften Wellen flutete, fand ich die Tatsache, zwei Stunden und dreiundvierzig Minuten lang nichts zu tun und nichts denken zu müssen, grandios. Und so fuhren wir dahin, das Schiff, die pensionierten Frauen und Männer, meine Gedanken, die Zeit und ich.

Sonnenblumenfelder, Trauerweiden – alles in Zeitlupe

So sass ich auf dem Deck, freundliche 23 Grad Celsius, eine ebenso freundliche Brise aus Nordwest, und schaute auf das Ufer, wo Raben von Baum zu Baum flatterten. Wiesen, die in Zeitlupe vorbeiglitten, eine strotzende Palme in einem Garten und eine Fahne des Kantons Uri, gelber Grund mit einem schwarzen Stier-Kopf, durch dessen Nüstern ein roter Ring gezogen ist.

Entschleunigen ist eine wunderbare Sache. Einfach dasitzen, an einer Schwanenfamilie vorbeiziehen, Eichen, Birken und Trauerweiden gleiten vorbei. In der Ferne leuchten knallgelbe Sonnenblumenfelder, der Duft von reifem Getreide liegt in der Luft. In einem Garten wuchern Zucchetti und der Lauch steht stramm in Reih und Glied. Denn entschleunigen lässt mir Zeit fürs Schauen. Ich sehe Störche in ihrem Horst sitzen, Maisfelder und acht Enten mit roten Flügelspitzen und schwarzen Schwänzen. Und weil alles so beruhigend langsam vorübergleitet, öffnen sich die Luken in meinem Kopf, der Hirnmüll segelt davon, alles wunderbar leer, mein Kopf, die Zeit und ich.

Reisen, mit dem Schiff, einfach so übers Wasser schwimmen, nichts tun müssen und auch nichts tun wollen, nur sitzen und gucken und alles davongleiten lassen ist wohl die beste Art, das Ticken der Stoppuhr temporär zu vergessen. Eine Schifffahrt, zu diesem Schluss kam ich kurz vor Solothurn, ist eine gute Praxisübung zum Entschleunigen, denn das Schiff ist langsam. Diese Langsamkeit bringt Ruhe in meinen Kopf, der Atem geht ganz von selbst ein und aus und ein und aus. Alles gut. Ich bin entschleunigt und habe jetzt eine Ahnung von der Langsamkeit der Zeit.

 


Das Entschleunigen üben auf einer Schifffahrt von Biel nach Solothurn. (Foto: Morena Pelicano)