Gemeinsam leben und bauern

Seit 11 Jahren lebt und arbeitet Ueli Kilchenmann, er hat eine leichte geistige Behinderung, auf dem Bauernhof der Familie Hirschi. Ein Arrangement, das beiden Seiten viel Freude macht.


Ueli Kilchenmann ist stolz auf seinen schönen und exakten Holzstapel.

Für Ueli Kilchenmann beginnt der Tag morgens um sechs Uhr. Der 30-Jährige Mann, er hat eine leichte geistige Behinderung, steht gerne so früh auf, denn er liebt es sehr, im Stall bei den Kühen und Rindern zu helfen. Mit der Mistgabel in der Hand beginnt er den Stall auszumisten. Das ist eine Arbeit, die Ueli Kilchenmann wichtig findet, «damit die Tiere wieder ein schönes Bett haben». Die 15 Kühe und vier Rinder stehen im Stall und fressen gemächlich Heu. Nach dem Ausmisten streut Ueli Kilchenmann frisches Stroh aus. Die Kälber mag der junge Mann besonders gern. Und auch die Tiere mögen ihn, sie lecken ihm freudig die Hand und das Gesicht. Walter Hirschi, der Bauer, ist mit dem Melken beschäftigt. Für den 67-Jährigen beginnt der Tag, obwohl er pensioniert ist, morgens um fünf Uhr. «Solange ich noch mag und Freude habe, werde ich arbeiten», sagt er. Im Jahr 1982 hat er den Chabisberg von seinem Vater übernommen. Der Chabisberg ist ein etwas abseits gelegener Bauernhof bei Dürrenroth im hügeligen Emmental. Ein paar Jahre später konnte er in der Nachbarschaft noch ein zweites Heimwesen, den Rotberg, dazukaufen. Der Chabisberg und der Rotberg sind nun zusammen 18 Hektaren groß. Zum ersten Januar 2014 hat Walter Hirschi den Hof auf seinen Sohn überschrieben. Zusammen mit seiner Frau Margrit, sie sind seit 1972 verheiratet, bewirtschaftet er noch den Hof. Die Familie Hirschi ist eine grosse Familie, sieben Kinder und 17 Enkelkinder, das älteste ist 20 Jahre alt und das jüngste neun Monate. Dazu gehört seit 10 Jahren auch Ueli Kilchenmann. Er hat zwei ältere Brüder und wuchs bereits auf einem Bauernhof auf. Mit 18 Jahren begann er eine zweijährige Anlehre als landwirtschaftlicher Mitarbeiter. Die Stiftung, bei der er die Anlehre machte, suchte danach einen Wohn- und Arbeitsplatz für ihn. So fanden Ueli Kilchenmann und die Familie Hirschi zueinander.

Familienleben steht im Vordergrund

Vor zehn Jahren hörte Margrit Hirschi von der OGG, der ökonomischen gemeinnützigen Gesellschaft in Bern. Die OGG bietet in Zusammenarbeit mit Bauernfamilien betreute Wohn- und Arbeitsplätze für Menschen mit einer Behinderung an. Die Zusammenarbeit mit der OGG sei sehr gut, sagt Margrit Hirschi. Wenn man eine Frage habe, hätte die OGG immer ein offenes Ohr. Walter und Margrit Hirschi betonen, dass das Familienleben im Vordergrund stehe. «Ueli soll sich bei uns wohlfühlen. Er ist ein natur- und tierliebender Mensch. Er ist gerne draussen und bei den Tieren.» Die Menschen, die von der OGG an eine Bauernfamilie vermittelt werden, sind keine Angestellten. Wenn es möglich ist, dürfen sie die einen oder anderen Pflichten übernehmen. Aber in erster Linie geht es darum, ihnen ein familiäres Umfeld zu bieten. «Auf unserem Bauernhof hat Ueli mehr Abwechslung als in einem Heim», sagt Walter Hirschi. Und Ueli Kilchenmann bestätigt das. «Ich helfe gerne mit», sagt der junge Mann. «Besonders gerne striegle ich die Kühe. Das mache ich jeden Morgen.»


Margrit und Walter Hirschi: „Ueli Kilchenmann soll sich bei uns wohlfühlen. Er ist ein natur- und tierliebender Mensch.“

Früher gings mit Pferd und Pflug aufs Feld

Bei Kaffee und Guetzli sitzen wir um zehn Uhr an diesem sonnigen Mittwochmorgen in der Stube. Auf dem Tisch steht eine Vase mit Osterglocken und Haselnusszweigen. Einen Kaffee mag Ueli Kilchenmann jetzt keinen mehr trinken. Er hört aufmerksam zu, während das Ehepaar Hirschi ein bisschen aus früheren Zeiten erzählt. Auch Margrit Hirschi ist in einer Bauernfamilie aufgewachsen, zusammen mit drei Schwestern und einem Bruder. Sie kann sich noch gut daran erinnern, wie man früher mit Pferden gearbeitet hat. «Als Kind musste ich beim Pflügen die Pferde führen, mein Vater hat den Pflug gehalten. Jeweils am Ende der Furche musste ich die Pferde wieder in die nächste Furche lenken. Hin und her liefen die Pferde alleine, da musste ich nur nebenher gehen. Da konnte ich dann stricken, ich habe beim Pferdeführen ganze Pullover gestrickt. Bei dieser Arbeit konnte man auch so schön miteinander ‹brichten›. Mein Vater hat dann jeweils von seiner Dienstzeit während dem zweiten Weltkrieg erzählt.» Aufgewachsen ist Margrit Hirschi in einer Grossfamilie. Auf dem elterlichen Hof lebten drei Brüder mit ihren Familien. «Es gab Zeiten, da waren wir mit den Helfern zwanzig Leute am Mittagstisch», erzählt die Bauersfrau. Damals lebten noch drei Generationen auf dem Hof. Walter Hirschi erinnert sich auch noch gut an seine Jahre als junger Bauer. «Damals wurden die Bäume im Wald noch von Hand mit der Säge gefällt. Es gab noch keine Motorsägen.» Da der väterliche Bauernbetrieb eher klein war, arbeitete er jeweils im Winter auswärts.

Mit Pferd und Wägeli durchs Emmental

Zum Rotberg, dem Bauernhof, auf dem die Familie Hirschi heute wohnt, gehören auch 14 Bienenvölker. Das erste Bienenvolk und das Bienenhäuschen bekam Walter Hirschi von seinem Schwiegervater 1972 zur Hochzeit geschenkt. Es gebe nicht jedes Jahr gleich viel Honig, meint er, das komme ganz auf das Wetter und die Bienen an. Auch zwei Pferde leben auf dem Hof, die gehören den beiden Enkeltöchtern, die gerne reiten. «Im Sommer machen wir auch hin und wieder eine Ausfahrt mit dem Wägeli. Da kommen dann auch meine Frau und die Grosskinder gerne mit», erzählt er. Das Emmental ist eine wunderschöne, hügelige Landschaft. Da ist es direkt romantisch, mit Pferd und Wagen durch Feld und Wald zu fahren.

Auf den 18 Hektaren Land werden Mais, Kartoffeln, Urdinkel, Gerste und anderes Futtergetreide angepflanzt. Der Mais, ein Teil der Kartoffeln und das Futtergetreide werden an die Kühe verfüttert. Der Mais wird nicht siliert, sondern frisch gehäckselt und verfüttert, denn die Kühe liefern Milch für die Käserei, da darf man kein Silofutter verfüttern. Zwei Mal pro Tag fährt Bauer Hirschi mit der Milch in die Käserei. Ein kleiner Teil des Urdinkels, es ist das älteste Getreide, wird in einer Mühle für den Eigengebrauch gemahlen. Daraus backt Margrit Hirschi dann im Holzbackofen Brot oder Zöpfe.

Einzäunen, Kartoffeln pflanzen und heuen

Anfang Frühling ist es dann Zeit, die Zäune für die Kuhweiden zu erstellen. Mit dem grossen Nylon-Schlegel treibt Ueli Kilchenmann die Zaunpfähle in den Boden und spannt den Elektrodraht. Auch beim Kartoffelpflanzen hilft er mit. Die Kartoffeln werden mit Hilfe einer Maschine gepflanzt. Vier Personen sitzen auf der Maschine und legen die Kartoffeln in die Öffnungen. Die Maschine verteilt dann die Kartoffeln in den Furchen. Im Sommer hilft Ueli Kilchenmann beim Heuen und Emden. Mit dem Rechen sammelt er das liegengebliebene Heu auf. Das ist auf den Emmentaler Hügeln eine schweisstreibende Arbeit. Aber das stört den jungen Mann nicht, denn er hilft gerne und überall mit. Im Winter sind Walter Hirschi und Ueli Kilchenmann oft im Wald. Da wird dann Feuerholz gerichtet oder die Waldränder werden gesäubert. Im Wald ist Ueli Kilchenmann gerne. Im letzten Winter hat er eine schöne Holzbeige aufgeschichtet. «Es gibt auch Tage, da gibt es nicht viel zu tun», erzählt Walter Hirschi. An solchen Tagen hört Ueli Kilchenmann gerne Radio in seinem Zimmer, SRF1 oder SRF3. Am liebsten mag er Mundartmusik. Jeden Tag hört er sich die Nachrichten und den Wetterbericht an. Er mag es auch, am Mittagstisch zu sitzen und das schmackhafte Essen zu geniessen. Und jeden Tag macht er eine ausgiebige Mittagspause. Am späten Nachmittag geht er dann wieder in den Stall, hilft beim Melken und beim Misten. Nach dem Abendessen kann man dann noch ein bisschen zusammensitzen und miteinander reden. Um acht Uhr geht Ueli Kilchenmann zufrieden schlafen, denn er hat sein Tagwerk vollbracht.

Betreutes Wohnen in Familien

Den Alltag und das ganz normale Leben selber zu bewältigen, ist für manche Menschen mit einer gesundheitlichen Einschränkung nicht oder nur schwer möglich. Anstelle eines Aufenthalts in einer stationären Betreuungseinrichtung wie einem Heim oder einer Pflegestation bieten wir dafür das Betreute Wohnen in Familien (BWF) an. Bei den Gästen sind die Bereitschaft zur Integration und der Respekt gegenüber eingespielten Familienregeln sehr wichtige Voraussetzungen. Gegenseitige Hilfe im Alltag, die Gestaltung persönlicher Beziehungen sowie die Entwicklung und Umsetzung von Tagesstrukturen gehören für Gäste und Gastfamilien zum zentralen Inhalt beim betreuten Wohnen in Familien.