Ich, Maria, die Mutter des Erlösers der Menschheit

Seit 2015 Jahren erlebe ich nun die Geburt meines Sohnes Jesus. Weihnachten ist für mich der schwierigste Tag des Jahres. Von Gott auserwählt, wurde ich, ob ich nun wollte oder nicht, die Mutter des Erlösers der Menschheit. Als der Erzengel Gabriel mir verkündete, dass ich schwanger bin, war Josef viele Tagesreisen entfernt in einer anderen Stadt. Ich war alleine und als der Engel erschien, erschrak ich sehr. Und jedes Jahr wiederholt sich diese Geschichte. Jedes Jahr werde ich von Gott auserwählt. Und jedes Jahr schenke ich der Menschheit den Erlöser. Es ist kein einfaches Schicksal, vor allem deshalb nicht, weil ich ja weiss, wie die Geschichte endet. Und heute, 2015 Jahre nach der ersten Geburt Jesu, stehe ich auf einer Bühne. Ich bin aus feinstem Ahornholz geschnitztund neben mir stehen Josef und Jesus. Er liegt einmal nicht in der Krippe. Wir stehen vor einem grossen Christbaum.

Von Paradiesbäumen, Äpfeln und Schlangen

Was wäre Weihnachten ohne einen Christbaum? Es gab eine Zeit, es ist schon viele Jahrhunderte her, da schmückten die Menschen ihre Wohnräume zur Wintersonnenwende mit Efeu, Mistelzweigen und Tannengrün. In der dunklen und kalten Winterszeit spendeten die grünen Pflanzen Lebenskraft und Lebensfreude. Weihnachten ist ja auch der Gedenktag von Eva und Adam. In den Kirchen wurde an diesem Tag ein Tannenbaum aufgestellt, der mit Äpfeln und Schlangen geschmückt wurde. Diesen Tannenbaum nannten die Menschen Paradiesbaum. Und sie erinnerten sich an den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies. Aber es gab Freude und Hoffnung, weil Jesus geboren wurde. So machten die Menschen aus dem Paradiesbaum einen Weihnachtsbaum, der mit Christbaumkugeln, Strohsternen, Lametta und Kerzen geschmückt wurde. Vor so einem prächtigen Weihnachtsbaum stehen wir, Josef, Jesus und ich, Maria. Heute ist also der 24. Dezember, der Abend ist mild, keine einzige Schneeflocke hat den Weg auf die Erde gefunden. Am Nachmittag waren alle Menschen in der Stadt damit beschäftigt, die letzten Geschenke einzukaufen und Tüten voller Lebensmittel nach Hause zu tragen. Auch im Volkshaus in Zürich, dort auf der Bühne stehen wir, herrschte emsiges Treiben. Viele freiwillige Helfer stellten in langen Reihen Tische auf. Legten weisse Tischdecken darauf. Dekorierten die Tische mit Tannengrün, Mandarinen, kleinen Lebkuchenherzen und mit Kerzen. Besteck, weisse Servietten und Kaffeetassen mit Untertellern wurden auf die Tische gestellt. Dreihundertsechzig Stühle wurden zurechtgerückt. In der Küche standen Köche und Gehilfen. Kaninchenfleisch schmorte in den Pfannen, Reis kochte, Karotten wurden gedünstet. Salat gerüstet. Brot geschnitten. Salatsauce angerührt.

Warum nicht in einem Schaufenster?

Um fünf Uhr senkte sich langsam die Dunkelheit über die Stadt. Die Weihnachtsbeleuchtung glitzerte, in den Schaufenstern funkelten die Tannenbäume, die Geschäfte schlossen ihre Türen, die Menschen kehrten nach Hause zurück. Vor dem Eingang des Volkshauses standen die ersten Menschen und warteten ungeduldig darauf, dass sich die Türen öffneten. Josef, Jesus und ich, Maria, standen auf der Bühne und schauten in den grossen Saal. Wir stehen ja nur an diesem 24. Dezember auf der Bühne. Den Rest des Jahres liegen wir, in Seidenpapier verpackt, in einer Kiste auf einem Dachboden. Immer, wenn ich in Seidenpapier eingehüllt werde, frage ich mich, warum wir nur an einem einzigen Tag im Jahr unter den Menschen sein können. Wir sind immerhin die Heilige Familie und mein Sohn Jesus ist der Erlöser der Christenheit. Warum bekommen wir nicht einen netten Platz, an dem wir auch an den anderen 364 Tagen im Jahr unter den Menschen sein können? Vielleicht in einem Schaufenster oder in einem Empfangsraum? Aber mit der Religion ist es heute schwierig. An einem öffentlichen Ort sollen keine religiösen Symbole aufgestellt werden. Weil das den einen oder anderen Menschen stören könnte. Aber ich frage mich schon, ob wir unter dem Jahr nicht auch etwas zum Frieden unter den Menschen und zur Nächstenliebe beitragen könnten, wenn wir unter den Menschen leben würden. In einer Kirche würde es uns auch gefallen. Gut, ich, Maria mit dem Jesuskindlein, wir stehen in jeder Kirche, doch Josef steht nie neben uns. Josef wird immer ein bisschen vergessen. Er war ein braver Zimmermann, ein frommer Bürger, ein guter Vater und ein verständnisvoller Weggefährte. Josef ist ja nicht der biologische Vater von Jesus. Als der Engel mir verkündete, dass ich schwanger war, fragte ich mich, was wohl Josef dazu sagen würde. Doch er hat ohne zu Klagen sein Schicksal angenommen und Gott für das Wunder gedankt. Wenn ich so mit dem kleinen Jesus in den Armen in der Kirche stehe, dann vermisse ich Josef, denn er war mir immer ein treuer und fürsorglicher Weggefährte. Deshalb ist der Weihnachtstag ein so schöner Tag, weil es der einzige Tag ist, an dem wir wirklich eine Familie sind, Josef, der Vater, Jesus, der Sohn, und ich, Maria, die Mutter. Und deshalb ist Weihnachten auch ein Familienfest. Es ist immer schön, wenn Menschen, die sich lieben, zusammen Weihnachten feiern.

Vier Kerzen im Advent

Auch wenn ich die restlichen 364 Tage im Jahr in einer Kartonschachtel verbringe, so habe ich doch mitbekommen, dass Weihnachten mittlerweile unglaublicher Stress ist. Was soll man denn all den Kindern, Onkeln, Tanten, Ehemännern und den Schwiegereltern schenken? Mit was für einem Menü könnte man die Familie überraschen? Welche Dekoration soll es dieses Jahr sein? Welches Kleid könnte ich anziehen? Bis zu einem gewissen Grad habe ich Verständnis für diese Sorgen der Menschen. Der Mensch ist nun mal ein Wesen, das sich beständig im besten Licht zeigen muss. Und der Mensch ist ein Wesen, das gerne zeigt, was es hat. Aber auf der anderen Seite kann ich nicht begreifen, warum man einen solchen kommerziellen Aufwand betreibt. Warum so viele Geschenke? Warum so aufwendiges Essen kochen? Warum ein spezielles Kleid kaufen? Weihnachten beginnt ja schon ein bisschen mit dem ersten Advent. Es gibt Familien, die stellen neben den Adventskranz mit den vier Kerzen eine kleine Krippe mit dem Jesuskindlein und daneben Josef und mich, Maria. Es sind keine frömmlerischen Familien und sie gehen nur selten in die Kirche, aber die Weihnachtszeit ist ihre liebste Jahreszeit. Sie mögen es, wenn es früh Abend wird, weil man dann die Kerzen auf dem Adventskranz anzünden kann. Sie mögen auch die Dunkelheit, weil man sich dann so schön zurückziehen und zusammen die eine oder andere Weihnachtsgeschichte lesen kann. Und es gibt Menschen, die lesen in der Weihnachtszeit auch gerne in der Bibel. Weil da so schöne Geschichten drinstehen.

Hoffnung zwischen den Welten

Ja, und dann gibt es Menschen, die keine Familie haben, die nicht nur an Weihnachten, sondern das ganze Jahr alleine sind. Gerne würde ich diesen Menschen sagen, dass wir, die Heilige Familie, für sie da sind. Nicht nur am Weihnachtsabend. Sondern das ganze Jahr. Es macht mich immer wieder traurig, wenn ich an all die Menschen denke, die an Weihnachten alleine sind, die kein Zuhause haben, weil sie obdachlos sind. Auch Josef und ich waren am Weihnachtsabend obdachlos. In der Herberge, an deren Tür wir in dieser Nacht klopften, wollte uns der Wirt keinen Platz zum Ausruhen geben. Aber er hatte dann doch Mitleid mit uns und gab uns die Erlaubnis, im Stall zu übernachten, bei Ochs und Esel. Auch heute noch finden nicht alle Menschen einen Platz in der Herberge. Sie gehen einen anderen Weg und streifen an den Rändern der Gesellschaft herum. Sie haben Sorgen, sind krank oder behindert, sie scheuen die Menschen oder sie misstrauen ihnen. Es gibt so viele Welten, die nebeneinander einhergehen, dass diese Welten oft nichts voneinander wissen. Und dann gibt es diese Zwischenwelt, diese Welt zwischen den Welten, so wie die Caritas Zürich, die heute Abend im Volkshaus zu einer öffentlichen Weihnachtsfeier einlädt. Ich, Maria, habe grosse Freude an dieser Welt zwischen den Welten. Mein Sohn Jesus wurde geboren, um den Menschen Hoffnung zu schenken. Auch die Caritas schenkt den Menschen Hoffnung. Sie lindert Not, Armut und Leid und sie setzt sich jeden Tag für eine Welt ein, in der Friede, Hoffnung und Nächstenliebe nicht nur Worte ohne Bedeutung sind. All die freiwilligen Helferinnen und Helfer, die heute Abend das Essen servieren, haben das Bedürfnis, an Weihnachten etwas Gutes zu tun. Vielleicht glauben sie an Gott, an Allah, an Buddha oder an Krishna, vielleicht auch nicht, vielleicht gehen sie jeden Sonntag in die Kirche, die Moschee, den Tempel oder in die Synagoge oder vielleicht sind sie schon seit Jahren nicht mehr in einer Kirche gewesen. Aber sie leben das, was auch schon mein Sohn gelebt hat, Nächstenliebe. Sie wollen, dass die Menschen, die heute Abend im Volkshaus sind, einen schönen Weihnachtsabend erleben. Sich um andere Menschen kümmern, ohne nach dem Gewinn zu fragen, das ist Nächstenliebe. Und Weihnachten ist das Fest der Nächstenliebe.

Der vergessene Jesus

Es ist sechs Uhr, als die ersten Besucher in den Saal strömen. Die gedeckten Tische sehen sehr festliche aus, die Kerzen brennen und am Flügel sitzt ein Pianist und spielt angenehme Musik. Ich, Maria, bin ein bisschen aufgeregt. Werden uns die vielen Menschen beachten oder werden sie uns einfach übersehen? Vor vielen hundert Jahren kamen die Hirten und knieten vor der Krippe nieder. Es ist ja nicht so, dass wir seit 2015 Jahren im Mittelpunkt der Weihnachtsfeier stehen. Viele hundert Jahre lang feierten die Menschen keine Weihnachten und uns, die Heilige Familie, gab es nur in der Bibel, im Matthäus- und Lukasevangelium. Dann kam eine Zeit, in der sich das Christentum unter den Menschen verbreitete, und an der Wintersonnenwende, wenn die Häuser mit Tannenzweigen geschmückt waren, gedachten die Menschen der Geburt Jesu. Heute ist es so, dass die Menschen zwar fleissig Weihnachten feiern, dass aber die Geburt meines Sohnes Jesus eher in Vergessenheit gerät. Die Menschen wissen schon noch, warum es Weihnachten gibt. Doch mein Sohn Jesus interessiert sie nicht gross. Das bedauere ich doch sehr. In der heutigen Zeit ist es halt schwierig mit der Religion. Immer mehr Menschen wollen keiner Kirche mehr angehören. Sie sagen, sie glaubten an eine höhere Macht, aber das muss nicht Gott und auch nicht Jesus sein. Es muss auch nicht Buddha, Allah, Krishna oder Jehova sein. Gläubig sein ist heute nicht mehr an einen Gott gebunden. Jeder Mensch hat die Freiheit, sich seiner eigenen Religion zu widmen.

Und sie flüchten auch heute noch

Es ist halb sieben und die Menschen haben auf den dreihundertsechzig Stühlen Platz genommen. Sie kommen alleine oder sie kommen mit ihrer Familie. Viele Menschen haben graue Haare. Nur die Kinder bringen die Jugend mit. Die Musik macht alles feierlich. Stimmen summen. Stühle werden verrückt. Die Kerzen leuchten. Der Weihnachtsbaum glitzert festlich. Und ich, Maria, stehe mit Josef und Jesus auf der Bühne und denke an jene Nacht, in der alles begann. Im Lukasevangelium steht, dass wir auf der Flucht vor Herodes waren. Ihm wurde prophezeit, dass ein neuer König geboren werde. Es bekümmert mich, dass heute so viele Menschen, 60 Millionen, auf der Flucht sind. Sie fliehen vor Krieg und Naturkatastrophen. Sie fliehen, weil sie wegen ihrer Religion angefeindet werden. Sie fliehen, weil sie keine Arbeit und nichts zu essen haben. Sie fliehen, weil sie für ihre Kinder eine bessere Zukunft wünschen. Josef und ich, Maria, wir flüchteten, weil wir unseren Sohn Jesus vor Herodes retten mussten. Und so wie wir damals unseren Sohn retteten, so retten heute Menschen ihr Leben, ihre Kinder und ihre Zukunft. In der Herberge waren Josef und ich nicht willkommen. So ergeht es heute vielen Flüchtlingen, sie dürfen nicht in der Herberge übernachten. Josef und ich hatten Glück, da Ochs und Esel uns im Stall wärmten. Viele Flüchtlinge müssen am Weihnachtsabend frieren, weil sie auch keinen Platz im Stall bekommen. Das macht mich sehr traurig. Nicht jeder Mensch liebt seine Mitmenschen. Viele Menschen wissen nicht, wer ihr Nachbar ist, sie wollen auch gar nicht wissen, ob es ihm gut geht oder ob ihn Sorgen drücken. Sie wollen sich nicht mit dem Leben anderer Menschen belasten. Es ist wahrscheinlich nicht einmal Gleichgültigkeit. Vielleicht ist es schlicht und einfach auch Angst davor, seinen Nächsten zu lieben. Liebe ist ja noch komplizierter als Religion. Dabei, was ist Weihnachten anderes als das Fest der Liebe? Um die Liebe zu den Menschen zu bringen, hat Gott meinen Sohn auf die Erde gesandt. Um die Liebe zu den Menschen zu bringen, sind Josef und ich vor Herodes geflüchtet. Um die Liebe zu den Menschen zu bringen, verbrachten wir die Nacht im Stall. Josef und ich, wir lieben unseren Sohn. Es ist eine schlichte Liebe. Eine Liebe ohne Bedingungen. Wir wünschen unserem Sohn, dass er jedes Jahr seinen Weg geht, und dass er jedes Jahr von neuem Liebe, Friede und Hoffnung bringt. So wie Jesus das Licht der Welt ist, so kann jeder Mensch zu einem Licht werden. Jeder Mensch kann einem anderen Menschen Liebe, Friede und Hoffnung schenken. Es braucht keine Bedingungen und keine Verpflichtungen. Das ist das, was ich mir an jeder Weihnacht für die Menschen wünsche. Ich wünsche es auch den Menschen, die heute Abend im Volkshaus Weihnachten feiern. Dass wir alle eine Familie werden, das wünsche ich mir.

Ein Abend des Friedens

Es ist sieben Uhr und die Menschen haben ihre Jacken ausgezogen, die Rücksäcke unter den Tischen versorgt, sie reden miteinander, sie hören der Musik zu. Für mich, Maria, ist es immer wieder ein grosses Wunder, wenn so viele verschiedene Menschen, heute sind 50 Nationen versammelt, in Frieden Weihnachten feiern können.
Um Viertel nach sieben wird der Salat serviert. Viele Menschen in diesem Saal sind sich nicht daran gewöhnt, dass ihnen das Essen serviert wird. Freundlich und geschäftig laufen die freiwilligen Helferinnen und Helfer hin und her.
Es ist acht Uhr, als ein Mann in Anzug und Krawatte die Bühne betritt. Es ist Herr Elmiger, der Direktor der Caritas Zürich. Und er hält eine Ansprache, die mir sehr aus dem Herzen spricht.

«Wir sind eine bunte Gesellschaft. Es ist nicht selbstverständlich, dass diese Farben zusammenkommen und zueinander passen. Wir sind farbig zusammengewürfelt aus der Stadt und der Agglo, Einheimische und Menschen ohne Schweizer Pass, ganz verschiedene Berufe, verschiedene Lebensschicksale. Frohe und traurige Erfahrungen kommen heute in diesem Saal zusammen. Wir kommen von irgendwo her und treffen zufällig zusammen. Dass das so möglich ist, ist schon ein Stück Frieden. Dass wir zusammenleben können in dieser Vielfalt, ist ein Reichtum und es ist auch Weihnachten, eine Zeit des Friedens.
Wenn wir die Nachrichten anschauen, dann erscheint uns das nicht selbstverständlich. Es sind so viele Flüchtlinge unterwegs. Jesus war auch ein Flüchtling. Als er ein kleines Kind war, mussten seine Eltern mit ihm fliehen, weil Herodes Angst vor dem neuen König der Juden hatte. Der Diktator Herodes fürchtete um sein Amt und um seine Macht. Er liess unschuldige Knaben töten. Wenn wir heute einen Flüchtling sehen, dann geht es ihm nicht besser als Jesus. Und wenn wir ein Volk sehen, das flieht, dann geht es ihm nicht besser als dem jüdischen Volk, das aus Ägypten geflohen ist. Sie gingen fort und zogen über das Meer und durch die Wüste in ein fernes Land. Genau gleich wie es heute täglich Menschen unter Lebensgefahr durch die Sahara oder über das Mittelmeer tun. Flüchtlinge fliehen nicht, weil sie das Abenteuer suchen. Viele fliehen in fremde Länder, deren Kultur sie nicht kennen und deren Sprache sie nicht verstehen. Oft schlägt ihnen Feindseligkeit entgegen. Sie werden als Sozialschmarotzer und Scheinasylanten beschimpft, die uns die Arbeit wegnehmen. Oft leben die Flüchtlinge im Abseits.
Aber es gibt zum Glück viele Menschen, auch in der Schweiz, die grosszügig denken. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Begegnung ist der beste Weg gegen das Misstrauen. Wenn ich jemanden kennenlerne, dann lerne ich ihm zu vertrauen. Der beste Weg aus der Isolation ist die Gastfreundschaft.

Einmal diskutierten drei jüdische Gelehrte die Frage: ‹Wann endet die Nacht und wann beginnt der Tag?› Der Erste sagte, die Nacht ende in dem Augenblick, wenn man die Berge vor dem Himmel sehen könne. Der Zweite sagte, erst wenn man die Zweige und Blätter eines Baumes unterscheiden könne, sei die Nacht vorüber. Der dritte Gelehrte hörte den anderen zu und dachte lange nach. Dann sagte er: ‹Die Nacht endet und der Morgen beginnt, wenn es hell genug ist, um deinen Mitmenschen als Bruder oder Schwester zu erkennen.› Das ist Weihnachten – Weihnachten bringt uns Licht, erhellt uns und bewegt uns dazu, einander ins Gesicht zu sehen und in dem anderen Menschen den Bruder oder die Schwester zu sehen. Nur jemanden, den ich nicht kenne, kann ich hassen. Wenn ich ihm begegne, dann muss ich mich auf ihn einlassen und muss Vorurteile abbauen. Echte Begegnung bringt Frieden. Weihnachten will Frieden. Wir begegnen unseren Mitmenschen mit Respekt und Toleranz – es könnte ja ein moderner Jesus sein.
Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Ich lade Sie ein, sich hier zu begegnen, sich für einen Moment auszutauschen. Wenn das passiert, dann ist es echtes Leben und dann wird es Weihnachten. Und so wünsche ich Ihnen ein frohes Fest und ein gesegnetes neues Jahr.»

Ich, Maria, freue mich sehr über diese Worte und ich hoffe, dass sie den Weg zu den Herzen der Menschen finden. Dann ertönt ein vielstimmiges «Oh du fröhliche» und mit «Stille Nacht, heilige Nacht» beginnt für mich die Weihnachtsfeier.

Ein Weihnachten ohne Geschenke wäre halt doch ein bisschen eine bescheidene Angelegenheit. Die freiwilligen Helferinnen und Helfer freuen sich sehr, als sie die Päckchen, die von zahlreichen Firmen gesponsert sind, verteilen dürfen. Für die Erwachsenen gibt es Schokolade, für die Kinder gibt es verschiedene Spiele.

Gemeinsam in Gottes Namen speisen

Um halb neun wird das Abendessen serviert – geschmortes Kaninchen, Reis und Karotten. Josef und ich, Maria, hatten ja ein sehr bescheidenes Mahl an jenem Weihnachtsabend, etwas Brot und Oliven. Wir dankten Gott für diese Speisen, es war bescheiden, aber wir mussten nicht hungern. Es bekümmert mich immer wieder, wenn mir bewusst wird, wie viele Menschen auf der Welt Hunger leiden. Hunger haben ist wohl etwas vom Schlimmsten in einer Welt, in der so viele Nahrungsmittel im Müll landen. Wenn ich die Macht hätte, würde ich die Lebensmittel gerecht verteilen. Dann würde kein Kind mehr den Hungertod erleiden. Ich finde es jedes Mal schön, wenn so viele Menschen aus so vielen verschiedenen Ländern an einer Tafel sitzen und gemeinsam speisen. Gibt es etwas Friedlicheres, als gemeinsam in Gottes Namen an einem Tisch zu sitzen und sich am Essen zu erfreuen? Essen kann Menschen miteinander versöhnen. Satte Menschen sind meistens auch zufriedene Menschen. Wer satt ist, kann seinem Mitmenschen mit Respekt und Toleranz begegnen. Vielleicht gäbe es weniger Krieg und Leid auf dieser Welt, wenn alle Menschen genug zu essen hätten. Denn von Gottes Wort alleine wird der Leib nicht gesättigt.

Erlösung, Vergebung und loslassen können

Ein bisschen bin ich von dieser Weihnachtsfeier schon enttäuscht, denn es gab keine Weihnachtsgeschichte. Für mich ist es immer der schönste Teil eines Weihnachtsfestes, wenn unsere Geschichte vorgelesen wird. Ich sorge mich halt auch immer darum, dass die Weihnachtsgeschichte im Lauf der Jahre und der Zeit verloren geht. Dass die Menschen irgendwann Weihnachten feiern, ohne zu wissen, dass dies die Geburt Jesu Christi, des Erlösers der Menschheit ist. Manchmal scheue ich mich davor, meinen Sohn den Erlöser der Menschheit zu nennen. Aber Gott hat es so bestimmt. Dass der Mensch bei Jesus Erlösung von seiner Pein und seinem Leiden findet, dass er Vergebung erfahren und sich an der Nächstenliebe erfreuen darf, dafür bin ich Gott dankbar. Denn auch in so modernen Zeiten wie heute, wo fast alles machbar ist, wo für viele Menschen alle Güter in Griffnähe sind, wo fast alles erreicht werden kann, was sich mit Geld kaufen lässt, in solchen Zeiten braucht der Mensch das Wissen, dass er Erlösung und Vergebung findet. Erlösung und Vergebung, das ist ja nicht nur die Erlösung von einem schweren Schicksal, Erlösung kann auch heissen, dass man loslassen kann. Dass man lange gehegte Träume loslassen kann, weil sie die Energien erschöpfen. Erlösung kann auch heissen, dass man eine Sucht loslassen kann oder dass man eine Krankheit oder Behinderung akzeptieren kann und den Mut findet, sich trotz Krankheit und Behinderung ein eigenständiges und freudvolles Dasein aufzubauen. Als Maria kann ich natürlich gut solche Weisheiten von mir geben. Ich muss mich ja nicht um weltliche Dinge wie Einkommen, Steuern und Arbeit kümmern. Ich bin eben die Mutter von Jesus, und als solche wünsche ich mir, dass jeder Mensch durch Jesus, durch Allah, Buddha, Shiva oder Jehova seinen inneren Frieden findet. Weihnachten ist auch der Tag, an dem man sich mit sich selber aussöhnen kann.

Während die Besucherinnen und Besucher das Dessert assen und Kaffee tranken, gab es wohl das schönste Geschenk, das man jemandem zu Weihnachten machen kann – ein paar handgestrickte Socken. Im Winter braucht der Mensch warme Füsse, damit ihm die Kälte nicht zu sehr zusetzt. Da ist es gut, wenn man Wollsocken geschenkt bekommt. Denn mit warmen Füssen kann man den Weg der Nächstenliebe mit offenem Herzen beschreiten und Weihnachten auch feiern, wenn der 24. Dezember schon längst Vergangenheit ist.